Angesichts der weltweiten Ausbreitung von SARS-CoV-2 stellt sich folgende Frage: Sollte man auf Reisen verzichten? Das sagen Epidemiologen.
Die Anzahl der Fälle von COVID-19 hat mit weit mehr als 100.000 diagnostizierten Erkrankungen und fast 5000 Toten die der Epidemien von SARS (ab 2002: 8000 Fälle/800 Tote) und MERS (ab 2012: 2494 Fälle/858 Tote) schon bei weitem übertroffen. Das wirft Fragen zu Strategien für die Kontrolle der Ausbreitung auf. Frühe und sehr wirksame Strategien sind die Isolierung von Erkrankten und Kontaktpersonen sowie die Aufdeckung der Infektionswege. Mit zunehmender Ausbreitung wird dies jedoch immer schwieriger, und der Ruf nach Schulschließungen, dem Verbot von Großveranstaltungen und Reisebeschränkungen wird lauter.
Untersuchungen zur Influenza haben gezeigt, dass Reisebeschränkungen eine begrenzte Wirkung haben: Eine Reihe von Studien kommt zu dem Ergebnis, dass solche Einschränkungen neue Influenza-Fälle nur um wenige Prozent verringern und der Verlauf verzögert, die Epidemie aber nicht verhindert wird.
Auch für SARS-CoV-2 gibt es bereits einige epidemiologische Schätzungen, deren Aussagen aber mit großer Vorsicht betrachtet werden müssen, weil noch Unsicherheiten im Hinblick auf genaue epidemiologische Kennzahlen wie die Basisreproduktionszahl R0, Verdopplungszeit, Latenzperiode und die Anzahl der asymptomatischen Verläufe bestehen: Möglicherweise werden nur etwa fünf Prozent der Infektionen identifiziert.
Chinazzi und Kollegen gehen davon aus, dass es in Wuhan knapp 59.000 und in anderen Regionen Chinas 3.500 Fälle gab, bevor das Reiseverbot am 23. Januar in Kraft gesetzt wurde. Sie berechneten mit bis zum 7. Februar verfügbaren Daten, dass die Reisebeschränkung das Fortschreiten der Epidemie in China insgesamt um drei bis fünf Tage verzögert hat. Auf internationaler Ebene habe sich die Reisequarantäne deutlich stärker ausgewirkt, dort sei die Zahl der importierten Fälle bis Ende Februar um 80 Prozent reduziert worden. Das Modell zeigte zudem, dass eine anhaltende Reisebeschränkung von 90 Prozent innerhalb Chinas nur geringe Effekte zeigen würde, wenn sie nicht mit einer Verringerung der Übertragung um 50 Prozent oder mehr innerhalb der Bevölkerung kombiniert werde.
Wu et al. haben mit Daten vom 25. Januar für ihr Modell eine Reproduktionszahl von 2,68 (95% CI 2,47-2,86), 75.815 Infizierte (95% CI 37.304-130.330) in Wuhan und eine Verdopplungszeit von 6,4 Tagen (95% CI 5,8-7,1) sowie knapp 900 Fälle außerhalb Wuhans zugrunde gelegt. Daraus berechneten sie, dass sich die Epidemie in anderen Regionen Chinas um ein bis zwei Wochen verzögert hat.
Das mag kurz erscheinen, aber die ganze Welt staunte, als in Wuhan in solch kurzer Zeit eine Klinik mit 1000 Betten zur Versorgung der Kranken aus dem Boden gestampft wurde: Zwei Wochen sind eine signifikante Zeit, wenn es darum geht, auf eine Epidemie zu reagieren.
Aus Erfahrungen mit anderen Erkrankungen wie Ebola und Influenza weiß man, dass Reiseinterventionen vor allem bislang nicht betroffenen Regionen und Länder nützen, sie können die Übertragung in neue Regionen allein aber nicht verhindern. Von größerer Bedeutung sind die bereits eingesetzten Maßnahmen zur Infektionskontrolle: Ein gutes Patienten-Screening, die Verfolgung von Kontakten und Quarantäne.
Prof. Dr. Christian Drosten, Leiter des Instituts für Virologie an der Charité Berlin betont, dass es nicht an der Zeit für egoistisches Denken ist: „Der einzelne muss sich nicht überlegen, dass er demnächst stirbt, die Wahrscheinlichkeit ist äußerst gering. Es geht um die Gesellschaft und um unser Medizinsystem, dessen Kapazitäten sich erschöpfen.“ Man hofft, dass eine Verzögerung der Epidemie bis ins Frühjahr oder den Sommer die Übertragungsrate durch zunehmende Trockenheit und UV-Strahlung verringern wird. Die Zeit, bis ein Impfstoff verfügbar ist, wird man damit nicht überbrücken, aber allerorten wird unter zugelassenen Medikamenten nach Therapiemöglichkeiten gesucht, hier ist jede gewonnene Zeit wertvoll.
Eine allgemeine Empfehlung, ob eine Reise angetreten werden soll oder nicht, lässt sich nicht aussprechen, das hängt von zu vielen verschiedenen Faktoren ab: Ob man ein Risikogebiet zum Ziel hat, der eigene Gesundheitszustand und vieles mehr.
Klar ist, dass die Anzahl der Kontaktpersonen eine Rolle spielt, was ein Grund für die Absage von Messen und anderen Großveranstaltungen ist. Ein Konzert oder eine größere Sportveranstaltung besuchen? Das persönliche Risiko ist gering, das gesellschaftliche wesentlich größer. Drosten erläutert dies anhand seiner Antwort auf die Frage eines Freundes, ob dieser mit seinen Kindern am Wochenende ein Fußballspiel besuchen solle: „Die Wahrscheinlichkeit, dass in dem Stadion eine Übertragung stattfindet, beträgt möglicherweise fast 100 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass es Dich und Deine Kinder betrifft, ist vielleicht 0,0001 Prozent.“
Er unterscheidet klar zwischen nötigen und unnötigen Veranstaltungen: „Unsere Gesellschaft braucht keine vollen Fußballstadien am Wochenende, aber sie braucht Schulen.“
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