So langsam rücken sie näher, die „echten“ Fälle. Und neben meiner Arbeit frage ich mich auch: Wird die Isolation daheim unseren Patienten nutzen oder – im Nachhinein betrachtet – schaden?
Ihr werdet alle das gleiche Gefühl haben: Die Sorge, die Panik, die wirklichen Fälle kommen näher, dringen nun in den eigenen Wohlfühlraum ein, erreichen Freunde, erreichen vielleicht Verwandte oder Arbeitskollegen. Über die Medien wollen wir gar nicht sprechen. Ein Freund von uns wurde jetzt positiv getestet, er muss in Quarantäne, seine Familie darf nicht zu ihm, sitzt bei Freunden fest. Die Zahlen in den Landkreisen steigen, weiterhin liegen sie aber unter denen der Influenzafälle.
Die Praxis ist weiterhin erstaunlich ruhig, sicher liegt es daran, dass Kinder eben wenig betroffen sind. Jetzt, wo Schulen und Kindergärten dicht sind, wird es allerdings interessanter: Mal sehen, was die ab morgen beginnende Praxiswoche bringt. Können alle ihre Kinder betreuen? Fragen Eltern nach, ob sie einen „Kinderkrank“-Schein bekommen, weil sie sonst Angst haben, keinen Lohn zu bekommen? Auch diese Dinge müssen wir jetzt am Telefon oder in der Sprechstunde erklären. Dabei wollen wir eigentlich nur Medizin machen. Aber diese Fragen kommen.
Freundlicherweise dürfen wir seit letzter Woche (durch Beschluss der Kassenärztlichen Vereinigung) die Krankscheine alleine nach Telefonat abgeben, ohne dass wir die Patienten sehen müssen. Das reduziert den Publikumsverkehr in der Praxis, damit die Krankkontakte. Alles im Sinne von „flatten the curve“. Aber sobald die Eltern nach Rezepten fragen, Nasentropfen, Fiebermitteln, müssen wir die Kinder wieder einbestellen. Liebe Eltern: Das kann man in solchen Fällen auch mal aus eigenen Mitteln in der Apotheke zahlen! („Aber dann zahlt es ja nicht die Kasse! Ich zahl schon genug Krankenkassenbeiträge!“ usw.)
Die Kinder meiner fMFA bleiben auch zu Hause. Manche haben Männer im Homeoffice, manche haben Partner, die selbst in medizinischen Berufen arbeiten, manche sind alleinerziehend. Ich bin sehr beeindruckt, wie die fMFA trotzdem versuchen, die Schichten in der Praxis abzudecken, damit wir den Praxisbetrieb aufrecht erhalten können. Alle planbaren und aktuell unwichtigen Termine werden wir sowieso auf unbestimmte Zeit verschieben. Ein Notfallplan eben. Sparen von Ressourcen, sparen von Kontakten, Akutmedizin. Ich bin gespannt, wie sehr das die Leute verstehen werden („Aber wir brauchen heute unbedingt diese Sportuntersuchung!“).
Meine Twitterbubble hat einen interessanten Aspekt in die Diskussion gespült: Dass die Kids nicht mehr in Schulen und Kindergärten gehen, bedeutet für manche der Verlust einen Schutzraumes vor der eigenen Familie. So weit habe ich bisher noch nie gedacht. Es gibt übergriffige Familien, aus denen sich die Kinder in die Betreuung flüchten. Eine andere Twitterin schrieb wiederum, manche Kinder, die in der Schule gemobbt werden, können nun aufatmen und sich nicht mehr dem täglichen Martyrium stellen. Welche weitreichenden Konsequenzen das Homeschooling damit hat!
Oder dies:
Und was bedeutet der Unterricht zu Hause für die Schüler? Ist es eine Chance für manche, die daheim konzentrierter arbeiten können? Die nicht abgelenkt sind, durch das Chaos der Klasse? Und ist es aber für andere die Katastrophe, weil sie nur unter dem Schutz der Schule dem Unterrichtsstoff folgen können, im häuslichen Umfeld aber dazu keine Gelegenheit haben, weil die ganze Familie nun dort hockt, die Geschwisterkinder um sie herum kreischen, die Eltern keine Hilfe sind? Wieviele Kinder werden durch das Homeschooling noch mehr abgehängt? Entstehen so größere Unterschiede oder verkleinert sich der Abstand für andere, denen das abgegrenzte Lernen am eigenen Schreibtisch entgegenkommt?
Wann werden die Zahlen so weit gestiegen sein, dass keine Testungen mehr möglich sind? Wann kommt überhaupt der nächste Schritt, in dem wir Bedside-Tests machen können mittels Antigen-Nachweis, wie beim Streptokokken-Test? Professor Drosten von der Charité (wer kennt den hörenswerten Podcast noch nicht?) rechnet damit im Mai oder Juni. Dann können wir flächendeckend testen und vermutlich feststellen, dass wir bereits jetzt und dann allemal der tatsächlichen Zahl der Infizierten erheblich hinterherhinken.
Auch jetzt ist es doch so: Mir machen die alten Leute Sorge, klar, denn „meine“ Kinder sind eher wenig gefährdet. Aber: Am meisten Sorge macht mir, wieviele durch meine Sprechstunde laufen (oder ich selbst? oder meine fMFA?), die bereits positiv sind, wir sie aber nicht testen, weil sie nicht dem Risikoprofil entsprechen.
Noch eine Erkenntnis: Dank Professor Drosten weiß ich nun auch, dass der Frühling keinen Rückgang der Fallzahlen bringen wird. Er rechnet mit einem echten Peak in Deutschland im Juni bis August.
Wir haben noch sechs Auffüllflaschen Desinfektionsmittel in der Praxis. Die Apotheken zeigen sich nicht sehr begeistert vom Produzieren derselben. Beenden wir dann auch unseren Betrieb, weil wir keinen Eigenschutz mehr gewährleisten können?
Bildquelle: Thomas Bormanns / Unsplash