Ein Internist sieht Schwächen bei der Anwendung von Off-Label- und Compassionate-Use-Therapien im Rahmen von COVID-19. Denn ohne Kontrollgruppen seien Ergebnisse wenig aussagekräftig.
Die Stellungnahme von Andre C. Kalil, Arzt an der University of Nebraska, wurde im Journal Jama veröffentlicht. Ihm zufolge lassen sich bei Einzelgruppen-Interventionsstudien ohne gleichzeitige Placebo-Kontrollen keine definitiven Schlussfolgerungen bezüglich der Wirksamkeit oder Sicherheit der verwendeten Medikamente ziehen. Als Beispiel führt er die während der Ebola-Epidemie im Jahr 2014 durchgeführten Therapieversuche an. Damals führte nur eine randomisierte klinische Studie (randomised clinical trial, RCT) zu positiven Ergebnissen.
Nun, da sich SARS-CoV-2 weltweit immer weiter ausbreitet, erhält ein Großteil der Patienten Medikamente, bei denen man aufgrund von antiviralen oder entzündungshemmenden In-vitro-Eigenschaften auch eine Wirksamkeit in vivo erhofft. Zu diesen Wirkstoffen zählen Chloroquin, Hydroxychloroquin, Azithromycin, Lopinavir-Ritonavir, Favipiravir, Remdesivir, Ribavirin, Interferon, Rekonvaleszenten-Plasma, Steroide und Anti-IL-6-Antikörper.
Doch obwohl viele Medikamente eine In-vitro-Aktivität gegen verschiedene Coronaviren aufwiesen, so Kalil, gebe es derzeit keine klinischen Beweise für die Wirksamkeit und Sicherheit der Anwendung beim Menschen. Zahlreiche Medikamente, die in vitro für andere Infektionskrankheiten sehr vielversprechend aussahen, seien in klinischen Studien gescheitert.
Darüber hinaus weisen dem Autor zufolge nicht wenige der Substanzen eine Vielzahl von Nebenwirkungen auf. Als Beispiel nennt er Chloroquin/Hydroxychloroquin, Azithromycin und Lopinavir-Ritonavir, die unter anderem zu Verlängerungen der QT-Zeit, Hepatitis, akuter Pankreatitis sowie zur Neutropenie führen können. Viele der Patienten, die an COVID-19 verstorben sind, waren zudem älter und litten an kardiovaskulären Komorbiditäten. Durch die Gabe der Medikamente könnte sich für diese Patientengruppe das Risiko eines Herztodes potenziell erhöhen. Darüberhinaus sind Hepatitis und Neutropenie, laut Kalil, klinische Manifestationen von COVID-19 und sowohl die Leber- als auch die Blutbildungsstörungen könnten durch den Off-Label-Einsatz dieser Medikamente verschlimmert werden. Ohne Kontrollgruppe sei es aber unmöglich, die medikamentenbedingten Nebenwirkungen von den Krankheitsmanifestationen zu unterscheiden.
Auch für Behandlungsansätze, die zuvor bei anderen Krankheiten eingesetzt wurden, sei es entscheidend, die Medikamente in Studien mit einer gleichzeitigen Kontrollgruppe zu evaluieren. Als Beispiel nennt Kalil die Verwendung intravenöser Steroide und IL-6-Hemmer. Steroide seien beim Ausbruch von SARS und MERS erkrankten Patienten verabreicht und mit einer verzögerten Coronavirus-Clearance sowohl im Blut als auch in der Lunge in Verbindung gebracht worden. Auch für an Influenza erkrankte Personen sei die Behandlung mit Steroiden mit einem signifikant höheren Risiko für Sekundärinfektionen und mit einer erhöhten Mortalität assoziiert. Darüber hinaus hätten selbst niedrig dosierte Steroide bei Patienten mit Sepsis zu Schäden geführt. IL-6-Hemmer könnten zudem eine noch stärkere Immunsuppression als Steroide bewirken und das Risiko einer Sepsis, bakteriellen Lungenentzündung, Magen-Darm-Perforation und Hepatotoxizität erhöhen. Dennoch würden, trotz substanzieller Hinweise auf einen potenziellen Schaden, Steroide und IL-6-Hemmer inzwischen in mehreren Ländern Patienten mit COVID-19 verabreicht.
Als einen möglichen Grund für die fehlende Durchführung von randomisierter, kontrollierten klinischer Studien nennt der Autor die Befürchtung, dass es unethisch sein könnte, erkrankten Patienten ein Placebo zu verabreichen. Umgekehrt wird häufig davon ausgegangen, dass ein potentiell wirksamer Wirkstoff die optimale Therapie darstelle. Doch, so Kalil, wenn die Krankheit nicht zu 100 Prozent tödlich verläuft und nicht bekannt sei, ob das experimentelle Medikament dem Patienten helfen oder schaden würde, dann sei es ethisch vertretbar, diese Studien durchzuführen. Denn ohne Kontrollgruppe sei es nicht möglich, den Schaden eines experimentellen Medikaments zu bestimmen.
Darüberhinaus würde die Teilnahme an einer RCT sowohl für Patienten als auch Kliniker die Möglichkeit bieten, direkt zur Entdeckung neuer Therapien beizutragen, und sie würden auch von der sichereren Überwachung der Durchführung profitieren. So sollten im Optimalfall beim Ausbruch einer Epidemie RCTs mit einem adaptiven Design priorisiert werden. Dadurch sei es möglich, mehrere experimentelle Therapien während der gesamten Studie zu testen und diese schnell abzulehnen oder zu akzeptieren. Gleichzeitig würden sinnvolle klinische Ergebnisse produziert.
Im Zusammenhang mit der derzeitigen COVID-19 Pandemie wurden bereits weltweit mehrere solcher randomisierten klinische Studien eingeführt, darunter eine von der NIH gesponserte adaptive Studie. Kalil zufolge sei die beispiellose Geschwindigkeit vom Konzept bis zur Umsetzung dieser Studien bemerkenswert und beweise, dass solche Studien auch während einer Pandemie und somit zeitnah eingeleitet werden können. So betont er, dass die schnelle und gleichzeitige Kombination von unterstützender Behandlung und randomisierten klinischen Studien die einzige Möglichst sei, eine sichere und wirksame Behandlung für COVID-19 sowie für zukünftige Epidemien zu finden.
Was haltet ihr von der Argumentation des Autors, stimmt ihr ihm zu? Oder verlieren wir wertvolle Zeit, wenn wir weitere klinische Studien planen und Patienten, die eventuell von den Medikamenten profitieren könnten, diese zunächst nicht verabreichen? Wir sind auf eure Meinung gespannt!
Quelle ©: Andre C. Kalil / JAMA / docc.hk/tmvxqy
Bild ©: Johnhain / pixabay / docc.hk/ff4tmc