Da vorerst weder ein Impfstoff noch ein Medikament zur Eindämmung von SARS-CoV-2 zur Verfügung steht, hat die DGKH eine vierphasige Exitstrategie zur Orientierung erstellt. In dieser fordert sie u.a. auch eine umgehende Auswertung der COVID-19-bedingten Todesfälle in Deutschland.Jede Phase hätte ihr Ziel und müsse am Erreichen der Ziele nach definierten Kriterien gemessen und gesellschaftlich konsentiert werden, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH). In der Pressemitteilung zur Lageeinschätzung heißt es weiter:
Die gesundheitspolitische Diskussion über eine sogenannte Exitstrategie durch eine kontrollierte Deeskalation der Maßnahmen zur Kontrolle der COVID-19 Pandemie wird mit immer stärkerer Intensität geführt. Die DGKH hält diese Diskussion auf sachlicher und infektionshygienischer Grundlage vor dem Hintergrund der erheblichen gesellschaftlichen Auswirkungen für notwendig – auch um definierte Ziele für eine Exitstrategie zu benennen, an denen man sich orientieren kann. Zumal Impfstoffe und Medikamente in der nächsten Zeit nicht zur Verfügung stehen werden.
Aktuell befinden wir uns in Phase 1 und in der wichtigen Diskussion ob und wann ein Übergang zu Phase 2 möglich ist.
Die wichtigsten nächsten Schritte zur Gestaltung des Übergangs zur Phase 2 sind nach Auffassung der DGKH:
Die von der DGKH vorgeschlagenen 4 Phasen lassen sich mit ihren Zielen einteilen in:
Phase 1: Gesellschaftliche Quarantänisierung mit dem Ziel der Eindämmung und Verlangsamung der Pandemie und Vermeidung einer Überlastung der kritischen Versorgungsstrukturen, insbesondere des Gesundheitsversorgungssystems
Phase 2: Beginnende Rücknahme der Quarantänisierung bei gleichzeitiger Sicherung hygienischer Rahmenbedingungen und Verhaltensweisen
Phase 3: Aufhebung der Quarantänisierung unter Beibehaltung der hygienischen Rahmenbedingungen
Phase 4: Zustand des öffentlichen Lebens wie vor der COVID-19 Pandemie (Status quo ante)
Die infektionshygienisch begründete Freiheitsbeschränkung, in welcher das gesellschaftliche Leben deutlich eingeschränkt wird, um eine zusätzliche ungehinderte Weiterverbreitung des Virus soweit wie möglich zu vermeiden, ist verordnet und weitgehend umgesetzt. Die Infektionen sollen durch das Gesundheitsversorgungssystem aufgefangen und behandelt werden können, ohne die Kapazitäten kritischer Infrastrukturen und insbesondere das Gesundheitsversorgungssystem zu überfordern.
Die Zeit soll genutzt werden, um:
Sobald diese Voraussetzungen geschaffen sind und erkennbar wird, dass das Versorgungssystem nicht überfordert wird oder im Falle einer Überforderung nachgesteuert wurde, ist der Zeitpunkt gekommen, über eine Lockerung nachzudenken und die nächste Phase kontrolliert einzuleiten.
Der Erfolg von Phase 1 muss am Rückgang der Zahl der Sterbefälle, der Intensivaufnahmen und der Beatmungen und nicht primär an der Zahl der Infektionen generell gemessen werden.
Voraussetzung für die Einleitung dieser Phase ist, dass die medizinische Versorgung (insbesondere die stationäre und intensivmedizinische Versorgung) gemeistert werden kann. Hauptziel ist die Senkung der Intensivaufnahmen, der beatmungspflichtigen schweren Verläufe und der Todesfälle. Hierzu muss sich der Fokus auf den Schutz der Risikogruppen konzentrieren. Vorrangiges Ziel ist nicht die Senkung der generellen Infektionszahlen.Von größter Bedeutung ist die Unterscheidung der Bevölkerungsgruppen nach Bedrohlichkeit durch Intensivaufenthalt, Beatmung und Tod und nicht nach Risiko durch Infektion generell. Steigende Infektionszahlen generell sind sekundär und nur insoweit wichtig, als dass die Übertragungsrisiken kontrolliert sein müssen.
Infektionen unter den nicht bedrohten Alters- und Nicht-Risikogruppen könnten sogar durch Ausbildung einer natürlichen Immunität (Herdenimmunität) aufgrund einer durchgemachten Infektion dazu beitragen, dass die Ausweitung der Pandemie verlangsamt und sogar unter Kontrolle gebracht werden kann – so lange keine aktive Immunisierung durch Verfügbarkeit eines Impfstoffes besteht. Die Erfassung von Personen mit überstandener Covid-19-Infektion und deren Einsatz in sensiblen Bereichen der Infrastruktur werden von großer Bedeutung sein.
Die Auswertung der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Dynamik der Epidemie, die Hauptübertragungswege, die Quantifizierung der Risiken, die alters- und morbiditätsassoziierten Sterbe- und Erkrankungsrisiken weist den Weg in eine kontrollierte Exit-Strategie.
Die Mehrzahl der Übertragungen finden im engen familiären Umfeld statt – beispielsweise im Zusammenleben mit einem Infizierten oder in den engen Kontakten risikoreicher sog. „hyperspreader events“: Den Festen, Club- und Restaurant-Feiern, den Karnevals- und Aprez-Ski-Partys in geschlossenen Räumen, den Reisen und Fahrten mit engen Personenkontakten über längere Zeit oder vergleichbaren Aufenthalten von Gruppen unter engen Wohn- oder Lebensverhältnissen wie z. B. unter Passagieren von Kreuzfahrtschiffen.
Durch die generellen Kontaktsperren im öffentlichen Leben, das weitgehende Einfrieren der sozialen Kontakte und die Verbote jeglicher Versammlungen sind die aktuellen Hotspots die Pflege- und Altenheime, enge familiäre Wohnverhältnisse und die Kontakte der Mitarbeiter in medizinischen und sonstigen zentralen Versorgungsdiensten mit infizierten Personen bzw. Patienten. Diese Hauptrisikobereiche stehen zudem durch den eklatanten Mangel an Schutzausrüstung besonders im Fokus.
Das Ziel dieser Phase ist neben der Priorisierung der kritischen Infrastrukturen durch hygienische Verhaltensweisen und Schutzausrüstung (Abstandswahrung, Husten- Niesetikette, Mund-Nasenschutz), die ungehinderte Freisetzung und Übertragung von Viren durch unerkannt Infizierte auf vulnerable Personen in ihren Lebensbereichen unter Kontrolle zu halten.
Die Deeskalation muss schrittweise die Bevölkerungsteile erfassen, die wenig bis gar nicht durch schwere Verläufe, Beatmung und Tod bedroht sind. Der Übergang in die Phase 2 ist dann möglich, wenn die o.a. Kriterien (keine Überforderung des medizinischen Versorgungssystems) erfüllt sind.
Möglich sind deshalb in dieser Phase die schrittweise Wiedereröffnung von Schulen, Kitas, Universitäten, anderen Einrichtungen des öffentlichen Lebens unter fortbestehender strikter Wahrung von Kontaktvermeidung (1,5 Meter-Regel) und Basisregeln der Hygiene (Mund-Nasen-Schutz, Händewaschen) und strikter Separierung von Personen der vulnerablen Gruppen. Auch Teile der Unternehmen wie Geschäfte, bestimmte Dienstleistungsgewerbe, ähnlich wie erfolgreich praktiziert auch im Lebensmittelhandel könnten nach dieser Risikobewertung wieder geöffnet werden, wenn unter strenger Einhaltung der Abstandswahrung die o.a. Hygiene-Maßnahmen begründet und nachvollziehbar sichergestellt werden können. Eine partielle Fortsetzung der Kontaktsperre differenziert nach Alter und Erkrankungsrisiko kann für bestimmte Bereiche des öffentlichen Lebens erwogen werden.
Parallel muss die Maximierung des Schutzes der bedrohten Gruppen und Personen sowie der Mitarbeiter in den medizinischen Versorgungseinrichtungen gewährleistet sein. Hierbei müssen die nachfolgenden Aspekte in dieser Phase besondere Berücksichtigung finden:
Beschaffung der notwendigen Schutzausrüstungen und Desinfektionsmittel – bei Zusammenbruch der internationalen Beschaffungswege sollte zunehmend auf alternative Produktionen gesetzt werden.
Quarantäneverordnungen sollten in speziellen Fällen mit einem Angebot separierter Wohn- oder Unterbringungsangebote kombiniert werden, wenn im privaten Wohnbereich Mitbewohner aus einer vulnerablen Personengruppe unter engen problematischen Verhältnissen vorhanden sind. Hierzu könnten Hotels, leer stehende Wohnheime oder vergleichbare Unterkünfte herangezogen werden.
Zusätzlich muss die Zahl der Testungen massiv hochgefahren werden. Es müssen primär die Mitarbeiter der Medizin- und anderer zentraler Versorgungsbereiche sowie der Alten- und Pflegeheimen einschließlich der ambulanten Pflegedienste getestet werden. Dieser strategische Einsatz der Testungen erfolgt mit dem Ziel, möglichst nur negativ getestetes Personal in den wichtigsten Bereichen arbeiten zu lassen. Die Etablierung von Pool-Testungen könnte hilfreich sein.
Soweit die Kapazitäten es zulassen, breite Testung nicht nur der Verdachtsfälle und Kontaktpersonen – gegebenenfalls auch wiederkehrend – sondern in der Folge auch breiter Bevölkerungskreise. Gerade die Testungen in der Breite der Bevölkerung können genutzt werden, um Ausbreitungswege und das Ausmaß der Dynamik erfassen zu können.
Eine rasche Ausweitung der Antikörper-Diagnostik und Auswertung der dadurch gewonnenen seroepidemiologischen Daten dient der Abschätzung der Quantität des Herden-Schutzes und der Rolle der Übertragungsrisiken durch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene — den Gruppen mit dem geringsten Morbiditäts- aber bislang unbekanntem Übertragungsrisiko.
Die Sicherung der Versorgung des Krankenhauspersonals mit ausreichender Schutzausrüstung hat oberste Priorität. Eine zusätzliche Sicherung einer breiten Anwendung von Mund-Nasen-Schutz (MNS) durch gezielte Verteilung unter dem Personal von Alten- und Pflegeheimen sowie den ambulanten Pflegediensten sollte erfolgen. Die DGKH hat bereits früh auf alternative Optionen z. B. durch die alternative Produktion von textilen Masken hingewiesen und die Essener Nähanleitungen publiziert. Diese sind inzwischen in mehr als 10 Sprachen übersetzt.
Die Devise lautet: jede textile Maske ist besser als gar keine Maske. Je mehr MNS getragen wird, je mehr kann auch die Nachverfolgung von Kontaktpersonen reduziert werden. Aufgrund der großen Fallzahl ist die Kontaktpersonen-Nachverfolgung in dieser Phase unrealistisch und wahrscheinlich nicht mehr zu bewältigen. Sie droht die personellen Ressourcen der Gesundheitsämter zu blockieren. Kontaktpersonen sollten vom Betroffenen gezielt informiert und über empfohlene Verhaltensregeln aufgeklärt werden.
Bei Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen und Wiedereröffnung von Geschäften und Restaurants und ebenso bei Aufhebung der Schul-, Universitäts- und Kita-Schließungen muss ein generelles Tragen von Mund-Nasen-Schutz (MNS) durch Mitarbeiter und Angestellte sowie durch Schüler und Studenten außerhalb der eigenen vier Wände gesichert sein.
In Schulen, Universitäten, Kitas und Betrieben sollte eigenverantwortlich überlegt werden, wie man durch Abstand-Schaffen Risiken vermindern kann. Best-Practice-Beispiele sollten in Medien und Foren bekannt gemacht werden. Hier kann auf vielerlei etablierte Erfahrungen verwiesen werden, die bereits unter den Bedingungen der generellen Kontaktsperre erworben wurden.
Die COVID-19-Todesfälle in Deutschland müssen umgehend ausgewertet werden, um Risiko-Konstellationen besser definieren und Risikopersonengruppen besser eingrenzen zu können. Die entsprechenden Fachgesellschaften dürften hierzu in der Lage und bereit sein.
Die Auswertung muss nach wissenschaftlichen Kriterien die Altersverteilung, die Risikoanalyse gefährdeter Personen jüngerer Altersgruppen und die Analyse der Rolle von Kindern und asymptomatischen Personen bei der Übertragung umfassen. Auch das nosokomiale Übertragungsrisiko für Personal und Mit-Patienten muss Gegenstand wissenschaftlicher Auswertungen sein. Der Schutz des medizinischen Personals und der anderen Patienten vor nosokomialer Ausbreitung von SARS-CoV-2 und weiterer noskomialer Infektionen hat eine besondere Bedeutung. Grundlegende Regeln des Mitarbeiter- und Pa-tientenschutzes müssen gesichert bleiben, das Hygiene-Regelwerk darf unter Bedingungen beschränkter Ressourcen nicht außer Kraft gesetzt werden.
Das Netzwerk der Universitätskliniken muss die wissenschaftlichen Expertisen von Hygienikern, Klinikern der wichtigsten Fachbereiche und anderer bedeutender Disziplinen neben Virologen und Epidemiologen bündeln. Sie nehmen zentrale Aufgaben im Krisenmanagement wahr und leisten wichtige Beiträge im diagnostischen, therapeutischen und infektionshygienischen Patienten-Management und insbesondere in der öffentlichen Infektionsprävention.
Die genannten Maßnahmen sind für die nähere Zukunft alternativlos.
Ein Tracing über Handy-Ortung wird abgelehnt, da es niemandem nützt. Die diskutierten Erfolge aus Südkorea betrafen eine Frühphase der Epidemie, die durch ein einziges Hyperspreader-event, ausgehend von zentralen Treffen einer kirchlichen Sekte in einem Krankenhaus und zu weiteren lokalen Gelegenheiten gekennzeichnet waren. Frühes Kontakt-Tracing kann effektiv sein, in späteren Phasen der Epidemie verliert es zunehmend an Bedeutung. Die aktuellen Hyperspreader-events in Deutschland und den europäischen Nachbarländern sind bekannt und nach Erlass genereller Veranstaltungsverbote ausgeschaltet: Alten- und Pflegeheime, familiäres Umfeld, insbesondere bei Zusammenleben mit Infizierten Personen, ambulante Pflege und Versorgung von Personen aus vulnerablen Gruppen sind jetzt die entscheidenden Risiken. Sie sind mit dem Mobil-Tracing nicht erfassbar. Auch die Übertragung durch infiziertes Personal sowie zwischen infizierten und nicht-infizierten Krankenhauspatienten (nosokomiale Übertragung) kann nicht erfasst werden. Die aktuell wichtigsten Ausbreitungsrisiken sind stationäre Ereignisse in bekannten Strukturen, die Mobilitätsdaten erfassen im Wesentlichen Personen, die zu den kritischen Bereichen der Infrastruktur gehören und deren Mobilität eine essentielle Voraussetzung für die Bewältigung der Epidemie ist.
Ziel dieser Phase ist unter Berücksichtigung der gewonnenen Erfahrungen und unter beizubehaltender Surveillance sowie unter Einhaltung der Hygiene-Maßnahmen, eine weitergehende Aufhebung der Quarantänisierung für zusätzliche Bereiche des öffentlichen Lebens zu ermöglichen. Hierzu zählen Kongresse oder jegliche Treffen in größeren Gruppen wie Versammlungen. Es ist zu hoffen, dass die Phase 3 durch zur Verfügung stehende Therapeutika und insbesondere durch einen Impfstoff kontrolliert in die Phase 4 übergehen kann, in der das Ende der Pandemie deklariert werden kann. Wie sich die COVID-19-Infektionen weiter entwickeln, ob es wie bei den Influenza-Pandemien einen Übergang in regelmäßige saisonale Epidemien geben wird, ist aktuell nicht einzuschätzen. Hier sind umfassende Analysen der bisherigen Dynamik der Pandemie erforderlich, die auf einer Auswertung der Daten der tatsächlichen Gesamtzahl aller Infektionen und ihrer Verbreitung in den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen basieren.
Ein Zustand des öffentlichen Lebens wie vor der COVID-19 Pandemie wird wahrscheinlich nicht vollständig erreicht werden. Eine umfassende Analyse aller Auswirkungen der Pandemie und die Aufarbeitung der Lehren aus dem politischen, medizinischen, infektionshygienischen, sozialen und ökonomischen Management unter Berücksichtigung ethischer Aspekte wird unter Global Health und Public Health Aspekten essentiell sein und wahrscheinlich Jahre brauchen.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH).Bildquelle: Eduardo Sánchez, Unsplash