In Zeiten von Corona gehen viele Dinge viral, die primär eigentlich so gar nichts mit Viren zu tun haben. Zum Beispiel der Begriff „systemrelevant“.
Die Verwendung des Begriffs „systemrelevant“ erfreut sich in den letzten Tagen und Wochen erdrutschartiger Beliebtheit und Verbreitung. Der Duden definiert als systemrelevant etwas, das für ein System von Bedeutung ist. Das leuchtet ein.
Bei Google finde ich, als ich diesen Artikel verfasse, ungefähr 951.000 Einträge zu selbigem Begriff. In Wikipedia werden als systemrelevant solche Unternehmen bezeichnet, deren Insolvenz vom Staat nicht hingenommen werden kann. Auch das versteht man sofort.
Neu ist in Wikipedia unter anderem folgender Satz: „Ab März 2020 wurden im Zuge der COVID-19-Pandemie als systemrelevante Berufsgruppen solche bezeichnet, deren Tätigkeit für ein funktionierendes Gemeinwesen unerlässlich sind, unter anderem: […] Medizin und Pflege“. Oliver Welke hätte in der Heute Show spätestens jetzt sein unnachahmliches „Jetzt hör doch mal auf!“ von sich gegeben.
Als tätiger Arzt und somit zu den angesprochenen Berufsgruppen gehörend, weiß ich zunächst nicht, was mich an der Diskussion am meisten ärgert. Angesichts der nicht zu übersehenden Bedrohung der eigenen körperlichen Unversehrtheit – im Zweifel droht sogar vorzeitiges Ableben, ohne dass man es dieses Jahr noch einmal nach Mallorca geschafft hätte – wird auf einmal medial wirksam sogenannter systemrelevanter Berufsgruppen erinnert.
Scheinbar war man ansonsten nie mit letzteren konfrontiert, weil man putzmunter und kerngesund ist und auch vorhat, dergestalt mindestens einhundertundzehn zu werden und ununterbrochen Spaß zu haben. Und weil unzählige unsichtbare Hausangestellte und sonstige Werktätige für ein reibungsvolles Funktionieren des täglichen Lebens sorgen, während man selber – metaphorisch gesprochen – mit der Kutsche von einem geselligen Zusammensein hurtig zum nächsten unterwegs ist, um spät in der Nacht in das weiche, vom Kammerdiener vorgewärmte Bett in einen von feuchten Träumen begleiteten wohltuenden tiefen Schlummer zu gleiten.
Okay könnte man jetzt sagen, die Tatsache, dass man sich überhaupt der Existenz und der Bedeutung der unzähligen Heinzelmännchen erinnert, ist ja schon mal was und des Lobes wert.
Doch da erhebt der Verfasser Einspruch; denn er stößt sich weiter ganz gewaltig am Begriff der Systemrelevanz, der gerade so viel zum Ausdruck bringt, als dass die angesprochenen Berufsgruppen offensichtlich notwendige Rädchen im großen Getriebe sind, Ameisen, auf die man leider nicht verzichten kann.
Systemrelevant hat nichts von Respekt, Wertschätzung, Hochachtung, geschweige denn Lobpreisung – da ändert auch das Klatschen vom Balkon nichts, außer dass die Klatschenden – wie meine Oma gesagt hätte – sich selber besonders wichtig vorkommen können.
Sie ähneln darin denjenigen, die in einer wesentlich sich selbst feiernden und nur noch grenzdebil zu nennenden Art und Weise in 2015 „Welcome Refugees“ gerufen haben, während mittlerweile die sprichwörtliche schwäbische Hausfrau sich um die Assimilation der geflüchteten Kinder und Jugendlichen kümmert, während die Bewohner*innen von sogenannten Szene- und Trendbezirken sich in atemberaubender Geschwindigkeit neuen Betätigungsfeldern zuwenden. Was kümmert sie schon ihr Betroffenheitsgetue von gestern.
Nun wollen wir aber dennoch versöhnlich schließen und die Tatsache, dass man unter dem Einfluss der Virusgewitter den Wert der praktischen Tätigkeit an sich wiederentdeckt (DocCheck berichtete bereits an anderer Stelle) als positives Indiz auffassen und eine anhaltende Readjustierung von Denken und Gesellschaft erhoffen.
Bemerkenswert ist hier zum Beispiel der Umstand, dass es offensichtlich einer ernsten Bedrohung unserer aller körperlichen Unversehrtheit bedarf, um uns wieder in ein adäquates Verhältnis zu so etwas wie Sanktion zu setzen.
Manche schienen am Altar der Anbetung der individuellen Freiheit vergessen zu haben, in welchem Verhältnis Freiheit und ihre Begrenzung stehen. Aber dazu äußere ich mich vielleich ein andern Mal.
Bildquelle: John Barkiple, unsplash