Bei den Übertragungswegen im Luftraum wird nach alter Schule in „Tröpfcheninfektion“ und „aerogene Infektion“ unterschieden. Neuere Untersuchungen zeigen, dass diese Vorstellung ein Auslaufmodell ist.
Das Problem ist bekannt: Der Mensch tut sich schwer damit, fließende Übergänge zu verstehen. Deshalb zieht er feste Grenzen ein. Bei der Übertragung von Krankheitserregern wird diese Grenze anhand der Partikelgröße gezogen. Irgendwo im Nirwana zwischen 5 und 10 µm läuft die magische Demarkationslinie zwischen Tröpfcheninfektion und aerogener Infektion. Alles was größer ist, sinkt der Theorie nach gravitätisch zu Boden. Kleinere Partikel, malerisch „Tröpfchenkerne“ genannt, schweben quirlig im Luftstrom umher. Diese Vorstellung geistert seit den 1930er Jahren mehr oder weniger unverändert durch die Lehrbücher.
So weit, so einfach. Ein neues Paper von Lydia Bourouiba aus dem renommierten MIT zeigt, dass dieses Modell der Dynamik beim Ausatmen, Niesen oder Husten nicht gerecht wird. Es wurde vor einigen Tagen im JAMA veröffentlicht [1] und ist – COVID-19 sei Dank – kostenlos im Volltext verfügbar.
Nach Bourouiba ist unsere alte Vorstellung ziemlich überholt. Statt Tröpfchen und Partikeln haben wir es mit einer chaotischen, sprich turbulenten Gaswolke zu tun, die ihr eigenes Mikroklima besitzt. In ihr flotiert ein Kontinuum verschiedener Partikelgrößen wie in einer Lufttasche. Die feuchte und warme Atmosphäre in der Gaswolke sorgt dafür, dass Tröpfchen wesentlich langsamer austrocknen und absinken als im isolierten Zustand. Dadurch können sie auch über größere Distanzen reisen. Unter geeigneten Bedingungen (geschlossener Raum, geringe Luftzirkulation) segelt die Gaswolke stolze 7 bis 8 Meter durch die Luft.
Gaswolke beim Niesen, Copyright: Lydia Bourouiba, JAMA
Diese Erkenntnisse sind aus infektionsepidemiologischer Sicht äußerst interessant – machen sie doch klar, das pauschale Abstandsregeln wie „1,80 Meter“ oder „3 Meter“ zwar eine Orientierung, aber keine Sicherheit geben. Die kritische Distanz ist vielmehr von einer großen Menge verschiedener Einflussgrößen abhängig, unter anderem vom Vektor des Atemstoßes und von der Luftzirkulation in der Umgebung.
Auch im Hinblick auf die Konstruktion von Atemmasken hat das neue Modell Konsequenzen. Atemmasken der Klasse FFP2 oder FFP3 werden zwar auf eine Partikeldurchlässigkeit getestet, aber nicht auf ihr Verhalten bei dynamischen Vorgängen wie Niesen oder Husten. Hier kann der Luftstrom eine Geschwindigkeit zwischen 10 und 30 m/s erreichen – Bedingungen unter denen manche Maske ihre Funktion einstellen dürfte.
Quellen:
[1] Lydia Bourouiba: Turbulent Gas Clouds and Respiratory Pathogen EmissionsPotential Implications for Reducing Transmission of COVID-19. March 26, 2020 JAMA. Published online March 26, 2020. doi:10.1001/jama.2020.4756
Bildquelle: Steven Mathey, CC BY-SA 4.0