Ein deutscher Pneumologe wirft die Frage auf, ob in anderen Teilen der Welt zu oft und zu schnell intubiert wird. Generell vermuten immer mehr Mediziner, die bisherige Strategie im Umgang mit Corona-Patienten könnte falsch sein.
Auch wir berichteten bereits darüber, dass die Mortalität bei invasiv beatmeten COVID-19-Patienten hoch ist. „Für Patienten ist eine invasive Beatmung grundsätzlich schlecht“, sagt auch Chefarzt und Pneumologe Thomas Voshaar in einem Interview mit der FAZ – selbst wenn das Beatmungsgerät optimal eingestellt und die Pflege perfekt ist.“ Mediziner stehen der Beatmung deshalb kritisch gegenüber.
Voshaar stellt in dem Zusammenhang eine wichtige Frage. „Von den beatmeten COVID-19-Patienten haben bislang leider nur zwischen 20 und 50 Prozent überlebt. Wenn das so ist, müssen wir fragen: Liegt das an der Schwere und dem Verlauf der Erkrankung an sich oder vielleicht doch an der bevorzugten Behandlungsmethode?“ Die ersten wissenschaftlichen Informationen zur Behandlung von Corona-Patienten aus China lösten bei ihm und Kollegen Verwunderung aus. „Als wir die ersten Studien und Berichte aus China und Italien lasen, fragten wir uns sofort, warum dort so häufig intubiert wurde. Das widersprach unseren klinischen Erfahrungen mit viralen Lungenentzündungen.“
Voshaar ist Präsident des Verbands pneumologischer Kliniken (VPK). Zur Behandlung respiratorischer Komplikationen bei akuter Virusinfektion außerhalb der Intensivstation veröffentlichte der VPK eine detaillierte Empfehlung, die man hier im Detail nachlesen kann. Einige relevante Auszüge hier:
Auf der anderen Seite gibt es keine Hinweise darauf, dass eine Viruspneumonie durch CoV-2 unter invasiver Beatmung einen besseren Verlauf nimmt. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass in der aktuellen Phase und insbesondere unter Berücksichtigung etablierter Regeln der Notfall- und Intensivmedizin zu viele Patienten zu früh intubierten werden. Spontanatmung mit und ohne Beatmungsunterstützung sollte so lange wie möglich und unter Berücksichtigung bekannter Kriterien der Krankenversorgung erhalten werden. Der Stellenwert der nicht-invasiven Beatmungstherapie sollte auch bei der Anschaffung und Verteilung von Beatmungsgeräten durch die Regierung im jetzigen Krisenfall Berücksichtigung finden.
Erst wenn die Sättigung deutlich unter 90 % fällt, sollte mit einer NIV oder auch High-Flow-Therapie begonnen werden, insbesondere, wenn die Atemfrequenz ansteigt, da sie eine beginnende Ermüdung der Atempumpe anzeigt. Bei hypoxämischer Insuffizienz wird in der Regel auf der IS zu früh beatmet und zu viel Sauerstoff gegeben. Das beschleunigt die Entwicklung eines ARDS (Lungenversagen), denn hohe Beatmungsdrücke schädigen die Alveolen und induzieren eine Entzündung, die dann bei der Infektabwehr fehlt. Ebenfalls führen Sauerstoffkonzentrationen über 50 % in der Inspirationsluft zu einer erheblichen Radikallast in der Lunge, die ebenfalls eine Entzündungsreaktion auslöst. Allerdings können diese Werte mit einer Nasensonde oder der Beimischung zur NIV praktisch nicht erreicht werden.
Die Verlegung auf die IS sollte vom Einzelfall abhängig gemacht werden. Nach der klinischen Erfahrung können viele Patienten außerhalb der IS mit einer NIV behandelt werden. Dies ist die primär zu bevorzugende Beatmungsform bei Viruspneumonien. Nach bisherigen Erfahrungen braucht ein großer Teil der Patienten mit SARS-CoV-2-Pneumonien auch nur vorübergehend eine Atemunterstützung. Die Beatmung dieser Patienten außerhalb der IS schützt wertvolle Ressourcen und hilft somit Sekundärschäden durch Platzmangel für die typischen intensivpflichtigen Patienten zu vermeiden.
Vieles dazu wurde bereits 2005 veröffentlicht. Damals wurde empfohlen, einen Pandemievorrat mit Antibiotika, Beatmungsgeräten, Schutzmasken usw. anzulegen. Leider haben das in Deutschland damals nicht viele Krankenhäuser umgesetzt, sodass jetzt Engpässe entstehen konnten. Auf der anderen Seite hat sich die NIV inzwischen breit in den Krankenhäusern (vor allem in den Lungenkliniken) etabliert, so dass hier mehr Beatmungsgeräte als früher zur Verfügung stehen, was die Versorgung außerhalb der IS vereinfacht.
In der Lungenklinik, in der Voshaar tätig ist, wurden Anfang April 29 Patienten behandelt, über die der Arzt in dem Zeitungsartikel berichtete. Ein Großteil konnte bald entlassen werden, die mittlere Liegezeit betrug sieben Tage.
„Alle hatten die charakteristischen beidseitigen Lungenentzündungen. Nur einen Patienten mussten wir intubieren, er kam mit schweren Grunderkrankungen.“ Das entscheidende diagnostische Mittel sei bei diesen schweren Fällen das CT – „weit zuverlässiger als der Corona-Test“, denn es habe viele falsch-negative Tests gegeben. „Vielen Covid-19-Patienten konnten wir mit der Sauerstoffgabe durch die Nase und der nichtinvasiven Beatmung mit Atemmaske gut helfen. Natürlich müssen Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung sowie Herz- und Kreislauffunktionen eng überwacht werden. Damit uns nicht vorgeworfen wird, dass unsere Patienten nur überlebt haben, weil sie schwach erkrankt gewesen seien, dokumentieren wir den Krankheitsverlauf“, erklärt der Mediziner.
Ein enormes Problem ist laut Voshaar, dass ein einheitliches Behandlungsschema fehlt, weil es noch keinen Konsens darüber zwischen Intensivmedizinern und Pneumologen gebe.
Auch andere Ärzte äußern Bedenken bezüglich der Behandlung von COVID-19. „Mehr davon“, twittert eine Userin in Bezug auf Voshaars Argumentation und postet einen Artikel mit dem Titel „With ventilators running out, doctors say the machines are overused for Covid-19.“ Darin kritisieren Intensivmediziner die verbreitete Anwendung von Beatmungsgeräten, bei einer großen Zahl an Patienten würde eine sanftere Unterstützung der Atmung ausreichen. In einem Artikel des TIME Magazine werden ebenfalls Mediziner zitiert, die eine Anwendung von Beatmungsgeräten bei Corona-Patienten in Frage stellen.
„Gleicher O-Ton hier, aus den USA“, twittert eine Allgemeinmedizinerin und postet ein US-Interview mit dem Intensivmediziner Cameron Kyle-Sidell aus New York. Auch er bringt den Gedanken ins Spiel, dass die Art und Weise, wie kritisch-kranke COVID-19-Patienten derzeit therapiert werden, noch verbessert werden sollte. Und er stellt in Frage, ob es bei COVID-19 tatsächlich zu einem ARDS kommt.
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„Ich verlange nicht, die Beatmungsstrategien sofort zu ändern […] aber ich würde mir wünschen, dass alle Experten auf dem Gebiet zusammenarbeiten“, sagt er im Interview. „Ich war in der Klinik unterwegs, zwischen der Notaufnahme und den Bereichen mit den Intensivbetten und ich sah alle Phasen dieser Erkrankung. Wenn du die Patienten in diesen unterschiedlichen Phasen sieht, kannst du erkennen, dass physiologische etwas nicht stimmt.“
In die Twitter-Unterhaltung schaltet sich ein weiterer User ein. Seine Argumentation: Ärztliche Zurückhaltung könnte einer der Hauptgründe für die niedrige Corona-Todesrate in Deutschland sein. „Das wäre eine wirklich schlüssige Theorie, warum bei uns die Mortalität scheinbar soviel niedriger ist. Ich habe häufiger darüber gelesen, dass unsere Ärzte international dafür bekannt sind, möglichst wenig einzugreifen. Das könnte sich hier als Segen herausstellen.“
Haben die Italiener also zu schnell intubiert? „Diese Diskussion haben wir den ganzen Tag“, sagt Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin in einem Audio-Beitrag von SWR2. Die Situation in Italien könne man überhaupt nicht mit der jetzigen hierzulande vergleichen, allein schon, weil die Verfügbarkeit der Intensiv-Betten in Deutschland viel höher sei als in Italien – viele kritisch-kranke Menschen hätten also ohnehin erst gar keinen Zugang zu der Therapie bekommen. „Invasive Beatmung verbessert zwar erstmal die Versorgung des Blutes mit Sauerstoff, führt aber seinerseits wieder zu Lungenschäden. […] Im Moment wäre ich sehr vorsichtig zu sagen, dass die zu früh intubiert haben.“ Eine abschließende Bewertung wolle er hier nicht abgeben, dafür sei es viel zu früh.
In den USA dürfte sich das Prozedere gerade im Wandel befinden. Behörden zufolge sterben im Problemgebiet New York City 80 Prozent und mehr der beatmeten Corona-Patienten, schreibt die Nachrichtenagentur Associated Press. „Wurden vor wenigen Wochen schwer erkrankte Covid-19-Patienten routinemäßig an Beatmungsgeräte angeschlossen, um den kritischen Zeitpunkt dafür nicht zu verpassen, setzen nun einige Ärzte in den USA zunehmend auf andere Behandlungsstrategien“, heißt es in einem Beitrag von N-TV. Man versuche stattdessen, das Atmen durch Positionsänderungen, insbesondere durch die Bauchlage, zu erleichtern. Des Weiteren setzten US-Ärzte nun mehr auf die Gabe größerer Sauerstoffmengen durch die Nase oder experimentierten mit der Zugabe von Stickstoffmonoxid zum Sauerstoff.
Kyle-Sidell spricht sich für ein kollektives Umdenken in der Medizin aus: „Es beginnt alles damit, die Idee zu akzeptieren, dass wir es hier mit einer völlig neuen Krankheit zu tun haben könnten. Sobald man dazu bereit ist, kann man auch akzeptieren, dass es zwar all die großen randomisierten […] Studien zu ARDS in den 2.000ern und 2010ern gab, dass aber womöglich keine der unersuchten Patienten damals COVID-19 oder etwas ähnliches hatten“, so fasst der Intensivmediziner die Lage zusammen. Das ermögliche einem, von bisherigen Denkmustern abzuweichen. Es bedeute aber auch den Weg in die Ungewissheit.
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Bildquelle: Alex Perez, unsplash