Eine solide Datenbasis könnte uns den Weg aus der Pandemie ebnen. Aber statt auf das Erheben repräsentativer Stichproben zu setzen, hat man sich in Deutschland zu lange mit dem Erfassen von Infizierten begnügt.
Tag für Tag präsentieren uns die Medien neue Daten: die Zahl der SARS-CoV-2-Infektionen, die Zahl der genesenen oder verstorbenen Menschen. Das beeindruckt viele Menschen. Jeder Zacken in der täglichen Kurve wird ausgiebig diskutiert. Vielleicht findet sich darin ja etwas Hoffnung auf ein baldiges Ende des Lockdowns? Umso größer ist die Enttäuschung, wenn die Infektionszahlen plötzlich wieder nach oben gehen.
Prof. Alexander Kekulé, Virologe aus Halle-Wittenberg, sieht in den Zahlen des Robert-Koch-Instituts nur einen „Blick in die Vergangenheit“. Grob gesagt schaue man mit den Zahlen zehn, wenn nicht gar zwölf Tage zurück, sagt der Experte. Wie kann das sein?
Zu Beginn steht schon mal ein recht mühsamer, wenig zeitgemäßer Meldeweg, sagen wir doch lieber Meldeumweg. Krankenhäusern, Arztpraxen oder Labors übermitteln positive Befunde an das zuständige regionale Gesundheitsamt. Von dort wandern die Daten weiter zur Landesbehörde und dann zum RKI. Das kann – je nach Zeitpunkt – schon mal ein paar Tage dauern. „Wir haben jetzt zusätzlich den Effekt, dass das Robert-Koch-Institut bekanntlich zum Teil die Befunde noch per Fax übermittelt bekommt – das darf man gar nicht sagen“, so Kekulé weiter.
Neben dem RKI veröffentlicht auch die John Hopkins University regelmäßig Zahlen zu Erkrankten, Genesenen und zu Todesfällen. Nur arbeiten US-Forscher mit allen frei zugänglichen Quellen. Und was die Verwirrung komplett macht: Deutsche und amerikanische Statistiken unterscheiden sich mal stärker, mal schwächer.
Doch solche Daten sind eigentlich die Basis für die Beurteilung der Restriktionen im öffentliche Leben. Sind sie sinnvoll oder nicht? Und Modellrechnungen des MPI (Stand 08.04.2020), die eine mögliche Lockerung von Maßnahmen in etwa zehn Tagen für möglich halten, sind natürlich immer nur so gut wie die Daten, auf denen sie basieren.
Bessere, schnellere Wege der Datenübertragung allein reichen dennoch nicht aus. Virologen gehen nämlich davon aus, dass SARS-CoV-2-Infektionen in vielen Fällen ohne Beschwerden – oder allenfalls mit leichten Erkältungssymptomen – verlaufen. Zum Arzt gehen Betroffene dann nicht und gehen somit in keine Statistik ein.
Auch das lässt sich mathematisch simulieren, etwa anhand von Daten aus China zu Beginn des Krankheitsgeschehens. Demnach könnten auf jeden nachweislich Infizierten etwa sieben unentdeckte Fälle kommen, das wäre auch in Deutschland eine gewaltige Zahl.
Forscher aus Göttingen berichten wiederum auf Basis verschiedener Datenquellen, in Deutschland seien nur 15,6 Prozent der Fälle entdeckt worden. Südkorea hat aufgrund flächendeckender Untersuchungen nahezu jeden Infizierten aufgespürt. Genau das wollten Ärzte im 3.400-Seelen-Dorf Vo in Norditalien vermeiden. Sie haben mehr als 95 Prozent der Einwohner per PCR-Test untersucht und das gleich mehrfach. Im Unterschied zu vielen anderen Regionen Italiens blieb die Katastrophe aus; Infizierte wurde früh in Quarantäne gesteckt. Davon hätten wir viel lernen können.
Doch RKI-Präsident Lothar Wieler sagt, es gebe keinen Anlass, von einer besonders hohen Dunkelziffer auszugehen, weil in Deutschland sehr früh und am Anfang der Coronakrise mit Tests begonnen worden sei und generell sehr viel getestet werde.
Deutschland testet viel – übersieht aber das Entscheidende
Wie ist die Aussage zu bewerten? Laut Online-Pressekonferenz der Akkreditierten Medizinische Labore (ALM) sind deutschlandweit insgesamt 1.250.874 Untersuchungen durchgeführt worden. Das entspricht 15.042 Tests pro Million Einwohner (Stand 5.4.2020). Als Positivrate nennt die ALM 76 Fälle auf 1.000 Tests.
Die USA kommen absolut auf 1.795.855 Untersuchungen (05.04.2020), aber nur auf ein Verhältnis von 5.471 Tests pro Million Menschen. Die Positivrate lag in den USA bei 186 Fällen auf 1.000 Tests. Und auch das stark gebeutelte Italien kann mit der deutschen Testfrequenz nicht mithalten: 721.732 Tests (06.04.2020), 11.966 Tests pro Million Einwohner und eine Positivrate von 184 Fällen pro 1.000 Tests.
Nur handelt es sich bei den genannten Tests um PCR-Untersuchungen mit dem bekannten Ziel, aktive Infektionen aufzuspüren. Über die Durchseuchung sagen diese Zahlen wenig aus.
Kein Wunder, dass Statistiker und Epidemiologen seit Wochen fordern, repräsentative Stichproben zu erheben. Die Idee dahinter: Man untersucht eine bestimmte zufällig ausgewählte Personengruppe in regelmäßigen Abständen, unabhängig von Symptomen. Findet man spezifische Antikörper gegen SARS-CoV-2, hat das Immunsystem neuartige Coronaviren erfolgreich abgewehrt.
Aber bis jetzt ist schon viel wertvolle Zeit verstrichen, die wir hätten nutzen können. Vor ein paar Tagen gab das RKI endlich bekannt, mehrere Projekte zu starten – aber warum erst jetzt? Geplant sind folgende Erhebungen:
Das klingt nun alles hochprofessionell, hätte aber früher kommen sollen. Warten wir auf die Ergebnisse.Bildquelle: Ben White/Unsplash