Spätestens jetzt gerät unsere Hybris gemäß dem Slogan „Alles ist machbar“ aus den Fugen. Trotz aller technischer Fortschritte bleiben wir verwundbare Wesen, wie der Medizinethiker Maio resümiert.
Die Frage nach der richtigen Vorbereitung für eine Krise stellt sich meist erst dann, wenn man mittendrin ist. Was das Materielle anbelangt, haben wir im ambulanten Bereich lange auf die versprochenen FFP-2-Masken gewartet. Bei uns sind sie erst vergangene Woche angekommen.
Was die persönliche Resilienz betrifft, muss man schon Vieles vorher investiert haben, damit man nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Sich in guten Zeiten bereits mit ethischen Fragestellungen zu befassen, hilft den Horizont nicht aus dem Blickfeld zu verlieren, wenn es ernst wird. Einer, der das unermüdlich tut, ist Professor Giovanni Maio, Lehrstuhlinhaber der Medizinethik an der Universität Freiburg.
Was ist ein unzulässigen Kriterium?
Bisher haben die Kapazitäten in unseren Kliniken ausgereicht, dank weiser Beschlüsse auf höherer Ebene und einer weitgehend disziplinierten Bevölkerung. Sollten jedoch die Infektionszahlen wieder stärker zunehmen, insbesondere bei weiteren Lockerungen der Kontaktvermeidung, werden sich ethische Fragen in der Patientenversorgung von Covid-19-erkrankten Patienten erneut stellen.
Würden dann weniger Beatmungsgeräte als notwendig zur Verfügung stehen, könnte sich ein Schreckensszenario auftun, vor dem uns allen graut. Wir Ärzte können und wollen das weitere Vorgehen dann nicht alleine entscheiden. Für Giovanni Maio spielt dabei das Alter des Patienten, wie es etwa in Italien oder im Elsass gehandhabt wurde, keine Rolle, wie er kürzlich in einem Interview mit der Badischen Zeitung erläuterte:
„In Deutschland entscheidet man allein nach medizinischen Gesichtspunkten, also der Frage, ob die Behandlung, die in Frage steht, dem Patienten nützt oder nicht. Das ist die einzig ausschlaggebende Frage: Können wir durch die Maßnahme dem Patienten helfen, können wir sein Leben damit retten oder nicht? Das Alter ist ein sehr gefährliches und aus meiner Sicht unzulässiges Kriterium. Es sagt ja für sich genommen nichts darüber aus, ob die Maßnahme sinnvoll ist.“
Ob man gesellschaftliche Gruppen, die besonders in der Krise relevant sind, bevorzugt behandeln sollte, wird diskutiert. Für die einen sind Personen, etwa wichtige Politiker, medizinisches Personal oder Ordnungskräfte, für das weitere Funktionieren der Gesellschaft auch in der Krise so unerlässlich, dass ihnen eine Sonderstellung zukommen sollte. Andere wiederum fordern eine Gleichbehandlung, die ihren Ursprung aus einer Überzeugung hat, wie sie auch Maio vertritt:
„Ein solcher Vorschlag, nach Berufsgruppe oder gesellschaftlicher Nützlichkeit Entscheidungen vorzunehmen, ist absolut abwegig. Jeder Mensch hat ein Anrecht darauf, gerettet zu werden, wenn man ihn retten kann. Die soziale Bedeutsamkeit darf überhaupt keine Rolle spielen, die wir ja auch gar nicht festschreiben können. Wer ist bedeutsamer als der andere? Wir sind alle gleich vor dem Gesetz. Wir haben eine Menschenwürde, die unantastbar ist. Dass jeder Mensch etwas Besonderes ist, ist das Denken, das uns auch weiterhin leiten muss.“
Es gehe vielmehr um ausreichende Schutzvorkehrungen besonders exponierter Berufsgruppen, damit sie weiterhin in der Krise einsatzbereit bleiben können, aber auch um in erster Linie deren Gesundheit zu erhalten.
Zum Glück gibt es nach wie vor Idealisten unter dem medizinischen Personal, die ihren Beruf nicht aus ökonomischen oder prestigeartigen Motiven gewählt haben. Blickte man hingegen vor der Krise in die Strukturen des hiesigen Gesundheitssystems, kamen einem schon auch Zweifel, ob die Motivationslage mehrheitlich innerhalb edler Gesichtspunkte angesiedelt ist.
Auch das Thema Kurzarbeit im medizinischen Sektor ist ein sehr kontroverses Thema. Statt Wertschätzung für einen Einsatz mit erhöhtem persönlichen Infektionsrisiko, steht mancherorts die finanzielle Rendite im Vordergrund. Diese kontraproduktive ökonomische Maximierungslogik wird von Giovanni Maio, der selbst auch Mediziner ist, immer wieder angeprangert:
„Das Virus allein hat nicht die Knappheit geschaffen, die gab es vorher schon. Wenn man Kliniken umfunktioniert in Profitcenter, ist die Ausdünnung der Medizinlandschaft die Folge. 50.000 Pflegestellen wurden wegrationalisiert, 30 Prozent der Betten sind weg. Wir haben ein Kaputtsparen des Systems zugelassen, das sich nun rächt. Allein die Vorstellung, dass viele Krankenhäuser jetzt, wo man sie braucht wie nie, eigentlich Konkurs anmelden müssten, weil sie kein Geld mehr erwirtschaften, zeigt doch die Widersinnigkeit des Systems. Wir müssen darüber reden, wie Medizin wieder als Daseinsvorsorge neu anerkannt wird.“
Das technische und wissenschaftliche Niveau in der deutschen Medizin ist hoch. Das darf aber kein Grund sein, das richtige Maß aus den Augen zu verlieren. Wir haben nicht alles in der Hand, wie Maio zusammenfasst:
„Wir dachten, unverwundbar zu sein. Aber das Leben kann sich von heute auf morgen durch unerwartete Gesundheitskatastrophen verändern. Corona zeigt uns, dass wir trotz aller technischen Fortschritte verwundbare Wesen bleiben.“
Mein persönliches Krisenfazit
Aufgewachsen in einer Epoche, die selten so lange friedlich, geordnet und voller Wohlstand war, trifft mich die Krise unerwartet. Gesamtgesellschaftlich wähnte auch ich mich weitgehend unverwundbar. Wir Mitarbeiter im Gesundheitssystem sind weiterhin angespannt und hoffen sehr, dass eine mögliche Eskalation in den Kliniken ausbleibt. Bilder aus aller Welt haben einen erschaudern lassen. Ich war noch niemals in New York und hatte geplant, das im Mai zu ändern.
Nun erschüttern mich die Nachrichten von dort zutiefst. In Italien bin ich oft und Bergamo kenne ich gut. Jetzt bin ich über jede Mail meiner italienischen Freunde erleichtert, die mir vermittelt, dass im Moment alle gesund sind. Meist lautet der letzte Satz: „Andrà tutto bene“–Alles wird gut-, und ich freue mich über so viel Optimismus, trotz allem.
Die nahezu komplette Umfunktionierung der Kliniken in Intensiveinheiten fand ich großartig, auch die Betonung darauf, dass wir besonders ältere und vorerkrankte Menschen schützen wollen. Ich glaube, dass wir in und aus einer Krise auch ganz viel lernen können. In erster Linie, dass eben nicht alles machbar ist und dass wir trotz hohem Standard verwundbar sind.
Wenn alles drum herum stillsteht, um das Eigentliche zu schützen, nämlich den Wert jedes einzelnen Menschen, werden vormals große Dinge klein und kleine Dinge groß. Ich freue mich über jegliche Art von Solidarität, wie Nachbarschaftshilfe oder die Kollegin am Arbeitsplatz, die mir eine ihrer Masken schenkte. Krisen sind auch Zeiten, um Demut zu lernen und existentiellen Werten einen ganz neuen Stellenwert zu geben.
Bildquelle: Jonathan Borba, Unsplash