Experten der Endocrine Society warnen vor Gesundheitsschäden durch Chemikalien, die Effekte auf das Hormonsystem haben. Diese sollen nicht nur an vielen Volkskrankheiten schuld sein. Gefährlich sei auch eine Exposition während der prä- und frühen postnatalen Entwicklung.
Die internationale Endocrine Society hat Ende September die Executive Summary ihres zweiten Berichts zu EDCs (endocrine disrupting chemicals) veröffentlicht. Darin erklären die Experten, dass es immer mehr Belege für gesundheitliche Risiken durch EDCs gebe. Besonders für Diabetes mellitus und Adipositas habe es seit der Veröffentlichung des ersten Berichts im Jahr 2009 zahlreiche neue Studien gegeben, die darauf hindeuteten, dass eine EDC-Exposition mit einem erhöhten Risiko für diese Erkrankungen einhergehe. Außerdem habe sich der Verdacht erhärtet, dass EDCs auch einen Einfluss auf die Fertilität von Mann und Frau, hormonsensitive Malignome wie Mamma-, Ovarial- und Prostatakarzinom sowie auf Schilddrüsenerkrankungen und Störungen in der Entwicklung des Nervensystems haben. „Die Evidenz ist klarer als je zuvor“, erläutert Andrea C. Gore, Professorin an der Universität von Texas (USA) und Vorsitzende der Arbeitsgruppe, die den Bericht verfasst hat. „EDCs stören das Hormonsystem auf eine Weise, die die menschliche Gesundheit schädigt. Hunderte von Studien weisen auf dieselbe Schlussfolgerung hin, seien es epidemiologische Untersuchungen am Menschen, Grundlagenforschung an Tieren oder Forschung an Menschengruppen, die berufsbedingt spezifischen Chemikalien ausgesetzt sind.“ In Deutschland ist jeder zweite Erwachsene übergewichtig und etwa 6 Millionen Menschen leiden hierzulande an Diabetes. Weltweit sterben jährlich etwa 1,5 Millionen Menschen an den direkten Folgen der Zuckerkrankheit. Die Prävalenz von Übergewicht und Diabetes nimmt außerdem ständig zu: Seit 1980 hat sich die Zahl der Adipösen mehr als verdoppelt, ebenso ist die Zahl der Diabetiker von schätzungsweise 151 Millionen (2000) auf 387 Millionen (2014) gestiegen. Angesichts dieser Zahlen ist es kein Wunder, dass Gesundheitsorganisationen und Wissenschaftler mittlerweile in beiden Fällen von Epidemien sprechen. Einer im März dieses Jahres veröffentlichten Schätzung zufolge verursachen durch EDCs bedingte Diabetes- und Adipositas-Fälle in der EU Kosten in Höhe von mehr als 18 Milliarden Euro pro Jahr.
Bei EDCs handelt es sich um exogene Stoffe, die den Hormonhaushalt beeinflussen und so die Gesundheit schädigen. Bekannte Beispiele sind Bisphenol A (BPA), DDT, polychlorierte Biphenyle (PCBs), Dioxine und Phthalate, doch auch anderen Substanzen wie Parabenen und Triclosan wird ein endokrinologischer Effekt nachgesagt. Obwohl viele Substanzen wie PCBs mittlerweile verboten sind, lassen sich diese Verbindungen immer noch in der Umwelt nachweisen. Ihre hohe Persistenz führt dazu, dass wir über Wasser, Luft und Nahrung weiterhin diesen Stoffen ausgesetzt sind. Andere EDCs wie BPA gelten dagegen (noch) als relativ unbedenklich und kommen daher in zahlreichen Gegenständen des täglichen Gebrauchs vor. Da BPA zur Herstellung des Kunststoffs Polycarbonat dient, ist es beispielsweise in Plastikgeschirr und Getränkeflaschen enthalten, doch auch Thermopapiere für Kassenbons, Fahrkarten und Parktickets sind eine BPA-Quelle. Zudem findet sich BPA in zahlreichen Medizinprodukten. Eine Studie an Neugeborenen in Intensivstationen konnte zeigen, dass die BPA-Konzentration im Urin von Säuglingen von der Anzahl der eingesetzten medizinischen Geräte abhängt. Bei Säuglingen, die beispielsweise eine nasale Versorgung mit Sauerstoff, eine positive Überdruckbeatmung oder eine nasogastrale Sonde benötigten, war die BPA-Konzentration im Urin signifikant erhöht.
Besonders gefährlich ist der Endocrine Society zufolge eine EDC-Exposition während kritischer Zeitfenster für die Entwicklung, also etwa in der prä- und frühen postnatalen Phase. Beispielsweise haben Tierstudien gezeigt, dass es bereits genügt, während der pränatalen Entwicklung winzigen Mengen an EDCs ausgesetzt zu sein, um später eine Adipositas auszulösen. „Eine EDC-Exposition während der Frühentwicklung kann lang anhaltende und sogar dauerhafte Folgen haben“, warnt auch Jean-Pierre Bourguignon, Professor für Pädiatrie an der Universität Lüttich in Belgien. Es sei daher besonders wichtig, dass Ärzte Schwangere darüber aufklärten, wie sie das ungeborene Kind schützen können. Weltweit sind etwa 42 Millionen Kinder unter 5 Jahren übergewichtig. Inwieweit EDCs daran schuld sind, lässt sich kaum sagen, doch infolge des Übergewichts steigt bei diesen Kindern nicht nur das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, sondern auch für Diabetes mellitus Typ 2. Manche EDCs scheinen spezifisch diabetogen zu wirken, während andere EDCs Übergewicht fördernde (obesitogene) Eigenschaften haben. Doch EDCs üben noch weitere unerwünschte Effekte auf die kindliche Entwicklung aus: Sie können z. B. auch die Schilddrüse beeinflussen und sich so auf die Hormon-Serumspiegel und/oder die Hormonfunktion auswirken. Da Schilddrüsenhormone zu verschiedenen Zeitpunkten der Entwicklung verschiedene Aufgaben erfüllen, hängen die gesundheitlichen Folgen stark davon ab, wann genau eine Störung durch EDCs stattfindet. Für bestimmte Chemikalien, die die Schilddrüse beeinflussen, konnte ein Zusammenhang mit kognitiven Defiziten nachgewiesen werden. Außerdem korreliert die EDC-Exposition der Mutter negativ mit dem kindlichen IQ.
EDCs beeinflussen anscheinend nicht nur die geistige, sondern auch die körperliche Entwicklung: Zahlreiche EDCs führen zu einer verfrühten Pubertät und einer frühen Thelarche, begleitet von einer geringen Körpergröße. Bei männlichen Nachkommen scheint außerdem ein Zusammenhang zwischen elterlicher EDC-Exposition und Hypospadie sowie Kryptorchismus zu bestehen. Bei solchen Effekten verwundert es nicht, dass EDCs auch schon lange im Verdacht stehen, die männliche und weibliche Fertilität zu verringern. Es konnte beispielsweise gezeigt werden, dass EDCs einen Einfluss auf die Gametogenese und somit die Spermien-/Oozytenqualität haben. Bei Paaren mit Kinderwunsch könnte es daher sinnvoll sein, während des Beratungsgesprächs auch über die potenziell reproduktionstoxischen Wirkungen von EDCs aufzuklären.
Sowohl bei Männern als auch Frauen konnte ein Zusammenhang zwischen EDC-Exposition und dem Auftreten von hormonsensitiven Krebsarten festgestellt werden. Bei Frauen gibt es starke Hinweise darauf, dass eine frühe EDC-Exposition die Entwicklung der Brust nachhaltig verändern kann und so mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko einhergeht. Auch scheint das Risiko für Gebärmutterhals- und Ovarialkrebs ebenso wie für gutartige Zellproliferationserkrankungen wie Endometriose und Leiomyome durch EDCs mit östrogener/antiöstrogener Wirkung zu steigen. Doch nicht nur die Geschlechtsorgane der Frau lassen sich durch Hormone und hormonell wirkende Substanzen beeinflussen, auch Männer sind nicht immun gegen die Wirkung von EDCs. Inzidenz, Progression und Mortalität von Prostatakrebs werden beispielsweise durch EDCs beeinflusst. Der genaue Mechanismus ist bisher unklar, Steroidrezeptoren, steroidogene Enzyme, epigenetische Reprogrammierung sowie Stamm- und Vorläuferzellen der sich entwickelnden und adulten Prostata scheinen dabei eine Rolle zu spielen. Ein gutes Beispiel dafür, dass EDCs nicht nur auf eine Weise auf ein System wirken, sondern multimodale Effekte haben.
Ab welcher Konzentration hormonell wirksame Substanzen gesundheitsschädlich sind, kann derzeit wohl niemand mit Sicherheit sagen, doch die Endocrine Society weist in ihrem Bericht darauf hin, dass additive und synergistische Effekte sowohl zwischen einzelnen EDCs als auch EDCs und endogenen Hormonen die Norm sind. Die Effekte von EDC-Mischungen sind bisher allerdings noch schlechter untersucht als die Wirkung der Einzelsubstanzen. Grenzwerte für einzelne EDCs können daher nur als erster Schritt gelten. Die Endocrine Society fordert daher neben mehr Forschung zur Ursache-Wirkungs-Beziehung von EDCs und Krankheiten auch eine striktere Testung von Chemikalien auf ihre endokrine Aktivität, insbesondere wie sie niedrig dosiert in Kombination mit bekannten EDCs wirken. Eines scheint jedoch klar: Je weniger EDCs wir ausgesetzt sind, umso besser.