Seit Corona ist der Rettungsdienst oft eine moralische Gratwanderung: Ein Mann liegt im Sterben. Lassen wir der Tochter Schutzkleidung da, um sich zu verabschieden? Es könnte die Ausrüstung sein, die mir nächste Woche fehlt.
„Die Lage ist dynamisch“ – das wird dann wohl der Un-Satz des Jahres. Man kann ihn ja schon nicht mehr hören, aber er beschreibt die Situation passend. Umstände, die letzte Woche noch nicht wirklich vorstellbar waren, sind heute Realität und wenn ich an „vor vier Wochen“ zurückdenke, kommt es mir persönlich vor, wie an ein anderes Leben zu denken.
In meinem Arbeitsalltag schätze ich den COVID-Anteil der Patienten auf ungefähr 50 Prozent aller Einsätze. Diese Zahl stellt eine Momentaufnahme dar, die schon morgen ganz anders aussehen kann. Der Text hier dient nicht dazu, die Ereignisse zu dramatisieren, aber vielleicht bereitet er diejenigen ein wenig vor, die aktuell nur vereinzelt Kontakt zu infizierten Patienten haben. Es ist ein Lagebericht, beruhend auf meinen eigenen Erfahrungen. Die habe ich gesammelt, von Anfang an. Deshalb hier mein Vorschlag: Führt über die nächsten Wochen Tagebuch, das hilft bei der Aufarbeitung und sorgt für eine zeitliche Einordnung der Entwicklungen. In meins gebe ich euch hiermit einen kleinen Einblick.
Aktuell prasseln unglaublich viele Informationen und Nicht-Informationen auf uns ein. Täglich neue Erkenntnisse, neue Gesetzestexte, Empfehlungen und Ideen, Handlungsanweisungen. Als Nicht-Information ist im Folgenden übrigens immer das Ausbleiben/Nichtvorhandensein von Informationen gemeint, die mir wichtig erscheinen. Nicht-Informationen sind gefährlich, weil sie zu Gerüchten, Fehlinformationen und ungewünschter Eigendynamik führen.
Das Material wird knapp. Ich kann euch nicht sagen, wie viele Schutzmasken wir noch auf Lager haben – die liegen schon seit Wochen nicht mehr frei zugänglich herum. Es könnten 10 sein, es könnten 1.000 sein. Solange mindestens eine im Lager liegt, um den RTW wieder zu bestücken, versuche ich, mir über diese Nicht-Information keine Gedanken zu machen.
Wir tragen ausnahmslos bei jedem Patienten mindestens Handschuhe, FFP2-Maske und Schutzbrille. Welche Maske gerade zur Verfügung steht und ob sie auf dem eigenen Gesicht irgendwie dicht wird, ist Glückssache. Viel zu häufig beschlägt die Brille schon nach wenigen Minuten, aber sich darüber zu beschweren, wäre Nörgeln auf hohem Niveau. Verglichen mit den umliegenden Kliniken schwelgt der Rettungsdienst in Luxus. Ein Luxus, den wir unserer Leitung zu verdanken haben, die sich entgegen manch anderer Handhabung frühzeitig für unseren Schutz engagiert hat.
Schutzmasken werden bei uns nur wiederverwendet, wenn der Mitarbeiter dies als tolerabel erachtet, ansonsten werden sie gesammelt, in Behältern zur Wiederaufbereitung. Evidenz über die Sicherheit der Aufbereitungs-Methode gibt’s wohl nicht wirklich, aber noch kommen die Masken originalverpackt aus dem Lager und nicht aus der Aufbereitungsanlage, deshalb bin ich bereit, auch mit dieser Nicht-Information zu leben.
Gesammelt werden auch Beatmungsschläuche, denn die werden langsam knapp und sollen ebenfalls aufbereitet werden, irgendwie. Perfusorspritzen haben wir gar keine mehr, hatten wir aber auch vorher nicht, organisatorische Defizite rächen sich spätestens jetzt. Dafür haben wir jetzt drei Perfusoren auf dem notdürftig zum Infekt-ITW umgerüsteten RTW, ohne die Möglichkeit einer invasiven Blutdruckmessung. Zudem hat kein einziger Kollege Erfahrung bzw. Qualifikation zur Durchführung von Intensivtransporten und verlegt werden soll mit ärztlichem Personal aus der Quellklinik. Hoffen wir mal, es trifft jemanden mit Notarzterfahrung. Der ITW steht 80 Kilometer entfernt, bisher hat das meistens gereicht. In Katastrophenzeiten müssen wohl die Notlösungen Abhilfe schaffen.
Die Situation in den umliegenden Kliniken zu bewerten, fällt schwer, denn jedes Haus handhabt die Situation anders. In der ersten Notaufnahme tragen die Mitarbeiter eine FFP2-Maske, die alle drei Tage gewechselt wird. Die Kollegen in der nächsten Klinik tragen nur MNS, im dritten Haus beides übereinander.
Schutzkleidung ist rar und das setzt dem Personal merklich zu. Wenn der dritte Iso-Patient in kurzer Zeit vor der Tür steht, wird der Ton auch mal rauer, dann ist gelegentlich der Rettungsdienst das Stress-Ventil und bekommt den Ärger ab. Ich persönlich kann das verstehen und nach fünf Minuten nickt man sich oft schon wieder versöhnlich zu.
Obwohl die ZNA mit COVID-Fällen in steigender Zahl konfrontiert ist, gibt es teilweise noch keine geregelten Abläufe, deshalb gestaltet sich manche Übergabe schwierig. Je nach Pflegekraft werden die Patienten im Fahrzeug des Rettungsdienstes auf Infekt-Anzeichen gescreent und die Übergabe erfolgt in der Fahrzeughalle, mal in Zelten vor der Klinik, anderswo auf dem Flur oder im Behandlungszimmer. In manchen Zelten liegen die Patienten so nah beieinander, dass der gesicherte COVID-Patient dem nicht infizierten Patienten die Hand geben kann.
In den ersten zwei Wochen war alles anstrengender. Kollegen gehen in Quarantäne, Kollegen kommen aus der Quarantäne. Die Abfrage der Risikogebiete, die Ersteinschätzung ob Schutz notwendig ist und das Ankleiden neben verängstigten Angehörigen. Die fehlende Sicht bei beschlagenden Schutzbrillen, der fehlende Sauerstoff im Hirn, wenn man mit FFP2 zu schnell in den dritten Stock geeilt ist.
Am meisten jedoch die veränderten Handlungsmuster. Kein Händeschütteln, keine beruhigende Berührung an der Schulter, kein Teampartner, der aktiv am Patienten mitarbeitet. All diese Veränderungen haben die strukturierte Versorgung nicht grade einfacher gemacht. Aber offensichtlich kann man sich an vieles gewöhnen, denn mittlerweile ist es zur Routine geworden.
Ein Umdenken bei jeder Handbewegung ist nicht mehr nötig. Ob der Patient ohne COVID-Symptomatik, der mit Unterschenkelfraktur im Garten liegt, negativ oder positiv ist, macht keinen Unterschied. Behandelt werden alle mit der gleichen Vorsicht, mit so viel Abstand wie möglich und so viel Kontakt wie nötig, denn eine Ansteckungsgefahr kann potenziell von jedem ausgehen.
Meine große Sorge war die COVID-Reanimation. Je mehr man sich über das potenzielle Ansteckungsrisiko informiert, desto unheimlicher wird es. Wir sind in unsere erste Rea, die als obere GI-Blutung gemeldete war, völlig ahnungslos reingestolpert. Wenigstens hatten wir sowas ähnliches wie „vollständige Schutzkleidung“ an.
Als wir ankamen und realisierten, in welcher Situation wir uns befanden, funktionierten die Abläufe unerwartet gut. Selbst als im Verlauf die NEF-Besatzung hinzukam. Gemeinsame mentale Modelle – ftw!
Hier einige Erfahrungen, die ich mit euch teilen möchte:
Abschließend lässt sich hier sagen: Im guten Team waren Reanimationen schon immer entspannt, im schlechten Team schon immer gefährlich.
Die aktuellen Einsätze sind anders als sonst, auch wenn es nicht nur COVID/COVID-Verdachtsfälle gibt. Die Patienten sind kränker und die kranken werden insgesamt mehr. Wir reanimieren auffällig oft, einige der Patienten hatten zuvor tagelang Symptome, die einen Notruf gerechtfertigt hätten. Sie warten aus Angst vor Ansteckung und unnötiger Belastung des Gesundheitssystems mutmaßlich zu lange mit dem Notruf.
Einsätze ohne Transport sind häufiger geworden, nicht weil die Patienten nichts haben, sondern weil wir weniger „mal zum Checkup“ ins Krankenhaus bringen, um rechtlich auf der sicheren Seite zu sein. Patienten und Angehörigen haben Angst. Angst davor, allein zu sein, weil Angehörige das Krankenhaus nicht mehr betreten dürfen. Angst vor der erhöhten Ansteckungsgefahr in Krankenhäusern und das wahrscheinlich nicht unbegründet, denn auffällig viele Patienten kommen wenige Tage nach Krankenhausentlassung plötzlich mit neu aufgetretener Pneumonie zurück in die ZNA.
Also bleiben auch Patienten zuhause, die wir gerne in Weiterbehandlung sähen. Das wäre auch kein Problem, wenn der Kassenärztliche Notdienst nicht 300 offene Einsätze hätte, die er abarbeiten muss. Hilfreich wäre auch, wenn Hausarztpraxen mit ausreichend Schutzkleidung ausgestatten wären, denn dann würden unsere Hausärzte nicht reihenweise wegen positivem COVID-Befund oder Risikokontakt in Quarantäne verschwinden.
Es zeichnen sich klare Hotspots ab. Risikogebiete spielen schon länger keine wirkliche Rolle mehr, aber es gibt lokal ganze Gemeinden, die enorm hohe Fallzahlen aufweisen.
Manche Einsätze machen nachdenklich. Das 94-jährige Ehepaar zum Beispiel, das seit 14 Tagen das Haus nicht verlassen hat. Lediglich der Dalmatiner und die Schildkröte, die mir jetzt geduldig bei der Versorgung des schwer erkrankten Mannes zusehen, drehen gelegentlich ihren Runden im Garten. Die vier kommen gut zurecht, sind glaubhaft ohne relevante Vorerkrankungen. Erledigten bisher alles allein.
Aber jetzt geht es für ihn nicht mehr ohne Klinikaufenthalt. Wir haben fast zwei Stunden alles gegeben, in der Hoffnung Hypoglykämie, Hypothermie und damit einhergehende Neurologie in den Griff zu bekommen. Erfolglos. Wir können ihn nicht zu Hause lassen, denn die Versorgung kann die Ehefrau allein nicht leisten. Ich habe ein ungutes Gefühl dabei, den Mann in eine ZNA zu fahren, in der gerade drei positiv getestete COVID-Patienten liegen. Die Ehefrau weint, verabschiedet sich. Mir bricht es das Herz.
Plötzlich stehen wir häufiger als sonst vor Entscheidungen, die ethisch herausfordernd sind. Dieses Dilemma beginnt lange vor der Triage um den letzten freien Beatmungsplatz. Zum Beispiel bei dem Patienten, der bereits so schwer erkrankt ist, dass ein Transport in ein Krankenhaus nicht mehr in Frage kommt. Morphin. Sauerstoff. Lagerung. Angehörige betreuen, die Prognose vermitteln. Alles in Schutzkleidung und mit möglichst viel Abstand. Die Ehefrau hat Angst, für die Ansteckung ihres sterbenden Mannes verantwortlich zu sein. Wir trösten, klären auf.
Zu solch einem Patienten kommt kein Notfallseelsorger, der Hausarzt nur ungern, genauso wenig wie der Kassenärztliche Notdienst. Ein Palliativteam steht ad hoc nicht zur Verfügung. Die ambulante Pflege kann den Patienten nicht versorgen, denn sie haben keine Schutzkleidung. Somit müssen wir die ganze Last auf die Schultern der Ehefrau legen. Versprechen ihr, dass ihr Mann nicht unter Schmerzen und Atemnot leiden muss. Zu Not soll sie wieder anrufen, wenn es nicht geht, wenn er leidet. Am Telefon haben wir die Tochter, die ihre Eltern seit Wochen nicht gesehen hat. Hinterlässt man Schutzkleidung und eine FFP2-Schutzmaske an der häuslichen Einsatzstelle, damit sie sich von ihrem sterbenden Vater verabschieden und ihre Mutter bei der Versorgung des sterbenden Ehemannes helfen kann?
Wenn man sich dafür entscheidet, dann hinterlässt man eben auch Schutzkleidung, die einem selbst vielleicht schon nächste Woche fehlt. Wieder ein Einsatz, bei dem wir fast zwei Stunden bei dem Patienten bleiben, weil der Rettungsdienst auffängt, was der Rest des Gesundheitssystems nicht mehr tragen kann.
Täglich neue Empfehlungen, täglich neues Material und vor allem täglich neue Probleme. Wir waren nicht auf die Pandemie vorbereitet. Aber wäre das überhaupt möglich gewesen? Vermutlich nicht. Deswegen gibt es jetzt viel nachzuholen. Eine Reanimation unter denkbar ungünstigen Umständen kann nicht zufällig gut gehen. Solche Situationen sind nur mit vorhandenem mentalem Modell zu bewältigen.
Auch der Krankentransport funktioniert nur mit Vorbereitung. Wenn möglich, verzichtet ein Teammitglied auf Patientenkontakt, sonst besteht keine Möglichkeit, den RTW schnell umzuparken, das Handy oder Funkgerät zu nutzen oder Material kontaminationsarm aus Schubladen oder Rucksacktaschen zu entnehmen. Und glaubt mir, ich schreibe das hier, weil ich selbst schon bemerkt habe, wie ungünstig es ist, sich die Zeit für die Vorbereitung nicht zu nehmen.
Abschließend noch einige Worte zur Gesamtsituation, um die oben genannten Einsätze in Relation zu setzten: Die meisten COVID-Patienten, zu denen ich bisher Kontakt hatte, zeigten einfach grippeähnliche Symptome und waren nicht schwerwiegend erkrankt. Ich könnte noch so viel mehr berichten, von misslichen Lagen in Asylunterkünften oder Patienten, die bewusst einen positiven Befund verschweigen – aus Angst, nicht behandelt zu werden.
Aber ich würde lieber mit etwas ganz anderem abschließen. Mit einem Fall, der nichts mit COVID zu tun hatte. Ein Polytrauma. Motorradunfall. Drei Minuten Anfahrt. Und fast alles, worüber ich die letzten Wochen nachgedacht hatte, hatte mit COVID zu tun. Als hätte dieses Virus alles andere in den Schatten gestellt. Keine Sorge, irgendwo habe ich es dann doch wiedergefunden, das Wissen aus der Prä-Covid-Zeit.
Es gibt sie noch, die anderen Patienten, lasst sie uns nicht vergessen.
Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM.
Über die Autorin: DieSina @NFSinataeterin, War irgendwann mal Physiotherapeutin, ist jetzt Notfallsanitäterin – irgendwo in Bayern. Macht irgendwas mit QM. Lernt und lehrt gerne.
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