Es tut mir leid, derjenige sein zu müssen, der die schlechten Nachrichten überbringt. Aber dafür gibt es ja inzwischen sogar im Medizinstudium Kurse, damit auch der letzte Depp in der Simulationspatienten-Prüfung zumindest bei der Begrüßung des Patienten volle Punktzahl bekommt. Ich gebe mir also Mühe, euch möglichst langsam an die Botschaft heran zu führen. COVID IST KEIN KLASSISCHES ARDS!!1!
Das ist eine Theorie. So wie eigentlich alles zur Zeit. Aber bleiben Sie dran, um mehr zu erfahren.
Jüngste Studienergebnisse aus Italien zeigen uns, dass die intensivmedizinische Standardbehandlung der akuten respiratorischen Insuffizienz bis hin zum Acute-Respiratory-Distress-Syndrome (ARDS) bei einem Teil der COVID-19 Patienten nur bescheidene Vorteile bringt (1). In einem Update der Surviving Sepsis Campaign wird aber gleichzeitig empfohlen, mechanisch beatmete Patienten mit COVID-19 auf der Intensivstation nach denselben Standards wie auch alle anderen Patienten mit akuter respiratorischer Insuffizienz zu behandeln (2). Da ist doch was im Busch!
Bei 16 beatmeten, schwer kranken Patienten mit COVID-19 fanden Gattinoni et al. eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen vergleichsweiser guter Lungenmechanik (Compliance 50.2 ± 14.3 ml/cmH2O) und Ausprägung der Hypoxämie (Shuntfraktion 0.50 ± 0.11) (1). Die relativ hohe Compliance in der beobachteten Kohorte widerspricht allen üblichen Beobachtungen beim schweren ARDS. Normalerweise beträgt das Verhältnis von Shuntfraktion zu nicht belüftetem Gewebe durchschnittlich 1.25 ± 0.80 (3). Bei 8 Patienten ließen sich im Thorax-CT Shuntfraktionen von 3.0 ± 2.1 ausmessen, was für beträchliche Hyperperfusion in nicht belüfteten Lungenarealen spricht (1). Die Autoren vermuten einen Verlust der pulmonalen Autoregulation (Verlust der hypoxischen Vasokonstriktion) mit genereller Vasoplegie in der Lunge als mögliche Erklärung. Daraus folgt, dass bei diesen Patienten eine Verbesserung der Oxygenierung durch hohen PEEP und/oder Proning (Bauchlagerung) nicht primär auf Rekrutierung von unbelüfteten Lungenarealen zurückzuführen ist, sondern auf Redistribution der Durchblutung.
Für die Bauchlagerung (Prone-Position) bei COVID-19 werden Anwendungen von bis ≥ 7 Zyklen (zu je 18–24 Stunden) beschrieben, wobei eine echte klinische Verbesserung kurzfristig häufig nicht erreicht werden konnte (4, 5). Chatte et al. identifizierten drei Kategorien bei Patienten mit ARDS und Proning (6):
Pelosi et al. geben zu bedenken, dass die Responderrate beim ARDS von der jeweiligen Ätiologie abhängig ist (7). Patienten mit sekundärem ARDS scheinen auf eine Behandlung mit optimierter Ventilation (Recruitment) und Proning eher anzusprechen als andere mit einem primären ARDS (7).
Patienten mit SARS-CoV-2 bieten klinisch völlig unterschiedliche Erscheinungsbilder. Manchen geht’s super und sie sind fleißig am Twittern auf der Notaufnahmentrage. Herzinfarkte liegen allerdings an der Tagesordnung, doch nicht bei den Patienten selbst, sondern bei medizinischem Personal, dass routinemäßig mal die Sättigung anstöpselt und 67 % liest. Oder noch weniger, davon gibt es genug Fallberichte (Aus New York: Sättigungen in den 40ern ohne Dyspnoe whatsoever). Die „stille“ Hypoxämie.
Andere hingegen imponieren mit schwerer Dyspnoe/Tachypnoe bei unterschiedlichsten CO2-Werten. Das Ansprechen auf therapeutische Interventionen, z. B. inhalatives Stickstoffmonoxid (NO) oder Bauchlagerung (Proning) kann erfolgreich sein – oder aber nicht.
Manch einer zieht Parallelen zur Höhenkrankheit bzw. High Altitude Pulmonary Edema, was wiederum von Experten der High Altitude Medicine zurückgewiesen wird (12).
Ein und dieselbe ätiologische Erkrankung präsentiert sich aktuell also bemerkenswert multiform. Na, was ist denn nun hier im Busch?
Aus den verschiedenen zeitabhängigen Krankheitsmustern entwickeln Gattinoni et al. zwei wesentliche primäre Phänotypen bei COVID-19. Seine These: Die meisten COVID-19-Fälle auf der Intensivstation sind kein klassisches ARDS. Richtig, das sagt Gattinoni, wohl einer der am meist geschätzten Experten zu ARDS weltweit.
Vorsicht: Natürlich alles theoretische Überlegungen und eminenzbasierte Medizin, die folgenden Absätze basieren auf der Arbeit von Gattinoni (8) und anderen Erfahrungsberichten bzw. Expertenkonsens:
(* Für die ganz aufgeweckten Mathematiker unter euch: Jau, da ist ein Delta. Das hier sind theoretische Überlegungen, manche Patienten lassen sich nicht einwandfrei in eine der Schubladen stecken.)
Beide Typen lassen sich übrigens auch Mustern in der CT-Bildgebung zuordnen (8). Klingt interessant, also hier nochmal einzeln aufgedröselt:
Zu Beginn imponiert der L-Typ mit einer normalen Complicance und normalem Gasvolumen innerhalb der Lunge, da im Gegensatz zum H-Typ kein schweres Lungenödem vorhanden ist. Deshalb erklärt sich hier eine Hypoxämie am ehesten durch den Verlust der pulmonalen Autoregulation, der pulmonalarterielle Druck ist normal. Das Lungengewicht ist nur etwas erhöht, denn im CT finden sich milchglasartige Verdichtungen subpleural oder in Lungenspalten. Die Lunge ist insgesamt gut belüftet, also kann logischerweise nur wenig an Lunge noch rekrutiert werden. Geht es dem Patienten klinisch sehr gut, muss er nicht unmittelbar intubiert werden (11).
Den Ablauf stellen sich Gantinoni et al. wie folgt vor: Die Virusinfektion führt zu einem lokalen subpleuralen, interstitiellen Ödem, für eine ausgeprägte Hypoxämie ist Vasoplegie (Vasodilatation) verantwortlich. Daraus folgt physiologisch eine Erhöhung des Atemminutenvolumens (AMV), hauptsächlich durch Erhöhung des Tidalvolumens (bis zu 15–20 ml/kg). Um diese hohen Tidalvolumina erreichen zu können, muss kraftvoller eingeatmet werden, was zu einem erhöhten (negativen) intrathorakalen Druck führt. Da die Lunge der Patienten allerdings eine normale Compliance aufweist, führt diese Zunahme des AMVs nicht unbedingt zu einem subjektiven Gefühl von Dyspnoe – der Patient schnauft halt einfach mehr als sonst, ihm geht’s aber dabei gut. Gleichzeitig können hier bemerkenswert niedrige Sättigungswerte toleriert werden.
L-Typ-Patienten können für einen bestimmten Zeitraum klinisch unauffällig bleiben und sich dann verbessern – oder aber sehr „plötzlich“ verschlechtern, kommt euch das bekannt vor? Hier muss man aufpassen. Die Kombination aus hohen negativen inspiratorischen Drücken (s. o.) und einer erhöhte Permeabilität der Lunge aufgrund von Inflammation führt laut Gattinoni et al. zu einem interstitiellen Lungenödem mit weiterer Verringerung der Gasaustauschfläche (8).
Wenn die Schwankungen im Pleuradruck (z. B. gemessen als Ösophagusdruck) sehr hoch sind, kann dies einen Übergang zum H-Typ begünstigen, Gattinoni et al. nennen hier 15 cmH2O. Insbesondere dann sollte über eine frühe Intubation nachgedacht werden. Unbenommen davon schreitet die Viruspneumonie weiter fort – ein böses Zusammenspiel.
Andere Kliniker geben zu bedenken, dass mitunter L-Typ-Patienten iatrogen zu H-Typ-Patienten gemacht werden könnten, wenn zu früh intubiert und dann eine Beatmungsstrategie gefahren wird, um „die Zahl zu korrigieren“ und auf eine sehr gute Sättigung bzw. PaO2 zu kommen. Doch Moment! Wir haben ja noch gar nicht die Pneumonie vom H-Typ beleuchtet. Weiter geht’s:
Klassisches schweres ARDS – die Lunge zeichnet sich hier durch ein signifikantes Lungenödem aus, das zu einer erniedrigten Lungenkapazität führt (Abnahme des Gasvolumens). Aufgrund des zunehmenden Lungenödems bilden sich nicht belüftete Lungenareale aus, die weiter mit Blut perfundiert werden, was zu einem erhöhtem Rechts-Links-Shunt-Volumen führt (Blut fließt durch die Lunge, wird aber nicht oxygeniert). Analysen von CT-Scans zeigen hier einen bemerkenswerten Anstieg des Lungengewichtes (> 1,5 kg), so wie man es auch vom schweren ARDS kennt (9). Die zunehmende Masse an nicht belüftetem Gewebe kann man logischerweise rekrutieren (10).
Und wieder einmal macht es uns der menschliche Körper leider nicht allzu einfach. Wir merken, dass ein One-size-fits-all-Approach auch bei COVID-19 dummerweise nicht ausreicht.
Was brauchen wir also? Na logisch: Individualisierte Therapieregimes (8):
Für die Leute, die nur runtergescrollt haben, um die Zusammenfassung zu lesen, hier seid ihr richtig.
Und nochmal: Wie das meiste, das wir zur Zeit im Zusammenhang mit diesem neuen Virus besprechen, basiert auch dieser Artikel auf Studien mit einem niedrigen Evidenzlevel, Erfahrungsberichten und Eminenz. Also mit Vorsicht genießen! Und im Zweifelsfall natürlich an Leitlinien halten.
Es gibt noch viel Weiteres an neuen Gedanken zu berichten, von Flüssigkeitsmanagement (weg von strikter Negativbilanzierung) bis hin zu Gerinnung bei COVID-19 (Hyperkoagubilität und (Mikro-) Thrombosen/-embolien in der Lunge?), doch das an einem anderen Tag.
Zum Literaturverzeichnis geht es hier.
Aktualisiert am 14.04.20 13:20 Uhr
Artikel von Justus, Notfallmedizin-Enthusiast in der Arztschule mit Vorerfahrung im Blaulichtmilieu, und Thorsten Hess, seines Zeichens gewiefter Intensivmediziner, Fachbuchautor.
Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM.
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