Die genetische Verteilung der Bitterrezeptorgenvarianten beeinflusst die individuelle Geschmackswahrnehmung. So werden einige Bitterstoffe, wie sie beispielsweise in der Artischocke enthalten sind, nicht immer als bitter empfunden. Der Bitterstoff Absinthin hingegen schon.
Obwohl nicht generell ein Zusammenhang zwischen Bitterkeit und Giftigkeit besteht, gehen Wissenschaftler im Allgemeinen davon aus, dass der Sinn für Bitteres uns vor dem Verzehr giftiger Nahrung bewahren soll. Dennoch weiß man schon lange, dass die Bittergeschmackswahrnehmung für einige Bitterstoffe sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Ein klassisches Beispiel ist die Wahrnehmung der künstlichen Substanz Phenylthiocarbamid. Für diese gibt es „Schmecker“ und „Nichtschmecker“, je nachdem, ob die entsprechende Person über die intakte Genvariante des Bitterrezeptors TAS2R38 verfügt oder nicht. Allerdings sind solche Wahrnehmungsunterschiede, die auf eine Mutation in einem einzigen Bitterrezeptorgen zurückzuführen sind, sehr selten. Meistens erkennen mehrere der 25 verschiedenen Bitterrezeptoren ein und denselben Bitterstoff gleichzeitig, wenn auch mit unterschiedlicher Empfindlichkeit. Der Ausfall eines Rezeptors ist somit nicht automatisch mit einem Verlust des Bittergeschmacks für diesen Stoff verbunden.
Wie die neuen genetischen und sensorischen Untersuchungen an 48 Studienteilnehmern erstmals zeigen, hängen die individuellen Unterschiede in der Geschmackswahrnehmung aber auch davon ab, wie die Rezeptorgenvarianten auf den Chromosomen verteilt sind. Denn sie werden meist nicht einzeln, sondern gruppenweise vererbt. Dies führt dazu, dass Menschen die Bitterkeit einiger Substanzen, wie z. B. Grosheimin aus der Artischocke, oft unterschiedlich stark empfinden, während dies für andere Bitterstoffe wie Absinthin nicht der Fall ist. Vereinfacht dargestellt, wird Grosheimin hauptsächlich von zwei verschiedenen Bitterrezeptoren erkannt: TAS2R43 und TAS2R46. Die Gene für beide Rezeptoren liegen auf einem Chromosom eng beieinander und werden daher meist gemeinsam vererbt. Das Chromosom weist dabei entweder zwei sensitive oder zwei für den Bitterstoff insensitive Genvarianten auf. Da jeder Mensch über einen doppelten Chromosomensatz verfügt – ein Satz stammt von der Mutter und einer vom Vater – besteht in diesem Fall eine etwa 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind zwei Chromosomen mit insensitiven Rezeptorgenen erbt. Dies bedeutet, dass es Grosheimin nur in sehr hohen Dosen mittels anderer Rezeptoren schmecken kann, während ein Kind mit zwei sensitiven Varianten auf beiden Chromosomen den Bitterstoff bereits in sehr geringen Konzentrationen erkennt.
Für Absinthin, den Bitterstoff aus Absinth, gibt es ebenfalls zwei spezifische Rezeptoren: den TAS2R30 und den TAS2R46. Die Gene liegen ebenfalls dicht beieinander, ihre Varianten sind jedoch anders verteilt. So findet sich auf einem Chromosom entweder eine sensitive Variante des TAS2R30 und eine insensitive Variante des TAS2R46 oder umgekehrt, eine insensitive Variante des TAS2R30 sowie eine sensitive Variante des TAS2R46. In jedem Fall erben die Nachkommen also immer wenigstens einen sensitiven Bitterrezeptor, der Absinthin erkennt. Dies erklärt, warum Absinthin und damit auch Absinth für die meisten Menschen bitter schmeckt. „Wie unsere Ergebnisse zeigen, beeinflussen die Gene unser Geschmacksempfinden nicht unwesentlich. Zudem belegen sie, dass die genetischen Mechanismen, welche die Wahrnehmung von Bitterstoffen beeinflussen, sehr viel komplexer sind als ursprünglich angenommen“, sagt Erstautorin Natacha Roudnitzky. „Unser Ziel ist es, noch mehr über die biologischen Grundlagen der menschlichen Geschmackswahrnehmung zu erfahren, um besser zu verstehen, wie sie neben anderen Sinnen und kulturellen Gewohnheiten unsere Nahrungsauswahl und unser Ernährungsverhalten beeinflussen“, ergänzt Wolfgang Meyerhof, Leiter der Abteilung Molekulare Genetik am DIfE. Ein besseres Verständnis könne dazu beitragen, Methoden zu entwickeln, die ein gesünderes Ernährungsverhalten unterstützen, so Meyerhof weiter. Originalpublikation: Receptor Polymorphism and Genomic Structure Interact to Shape Bitter Taste Perception Natacha Roudnitzky et al.; PLOS Genetics; doi: 10.1371/journal.pgen.1005530; 2015