Schwer oder kritisch kranke COVID-19-Patienten entwickeln oft typische Anzeichen eines Schocks. Forscher vermuten, dass eine virale Sepsis für den Pathomechanismus von COVID-19 entscheidend sein könnte.
Zu diesem Schluss kamen die Autoren in ihrer Studie, da sie bei COVID-19-Patienten häufig die Manifestation eines Schocks beobachten konnten. Zu den Anzeichen zählten kalte Extremitäten und schwache periphere Pulse, auch dann, wenn keine offenkundige Hypotonie vorlag.
Viele der Patienten zeigten zudem eine schwere metabolische Azidose, was auf eine Dysfunktion der Mikrozirkulation hinweisen könnte, so die Autoren. Darüber hinaus hatten einige Patienten neben schweren Lungenschäden auch eine beeinträchtigte Leber- und Nierenfunktion. Diese Patienten erfüllten, nach dem Sepsis-International Consensus, die diagnostischen Kriterien für eine Sepsis und einen septischen Schock, so die Wissenschaftler.
Dabei schien die SARS-CoV-2-Infektion bei den meisten Patienten die einzige Ursache zu sein. So erwiesen sich Probenkulturen aus Blut und aus den unteren Atemwegen bei 76 % der Sepsis-Patienten in einer COVID-19-Kohorte als negativ für Bakterien und Pilze. Aus diesem Grund nehmen die Autoren, Hui Li und Kollegen, an, dass die Hypothese einer viralen Sepsis geeignet sei, um die klinische Manifestation schwerer oder kritisch kranker COVID-19-Patienten zu beschreiben.
Die Autoren vermuten, dass in schweren oder kritischen COVID-19-Fällen die Integrität der epithelial-endothelialen Barriere schwerwiegend unterbrochen wird. So könnte SARS-CoV-2 zusätzlich zu den Epithelzellen auch Lungenkapillarendothelzellen angreifen, sodass großen Menge an Plasmabestandteile als Exsudat in den Alveolarraum gelangen. Als Reaktion auf die Infektion mit SARS-CoV-2 könnten Alveolarmakrophagen oder Epithelzellen verschiedene proinflammatorische Zytokine und Chemokine produzieren und Monozyten und Neutrophile anschließend chemotaktisch an die Infektionsstelle locken. Dies könnte, so Hui Li et al., zu einer unkontrollierten Entzündung führen. In diesem Prozess könne die adaptive Immunantwort aufgrund der erheblichen Reduktion und Dysfunktion von Lymphozyten nicht wirksam eingeleitet werden.
Die unkontrollierte Virusinfektion führe zu einer vermehrten Makrophagen-Infiltration und zu einer weiteren Verschlimmerung der Lungenschädigung. Währenddessen würde es zu einer viralen Sepsis kommen. Diese sei ausgelöst durch einen direkten Angriff weiterer Organe durch disseminierte Viren, durch eine mittels eines systemischen Zytokinsturms verursachte Immunpathogenese und durch Störungen der Mikrozirkulation.
Hui Li und Kollegen haben ihre Hypothese nach mehreren Diskussionsrunden zwischen Forschern der Grundlagenforschung, Pathologen und Klinikern, die an COVID-19 arbeiten, aufgestellt. Sie beruht auf den Ergebnissen von Autopsie-Studien und wissenschaftlicher Grundlagenforschung zu SARS-CoV-2 und SARS-CoV sowie Beobachtungen aus dem klinischen Alltag.
Wie Hui Li und Kollegen schreiben, zeigte die Lungenpathologie in Biopsie- oder Autopsie-Studien, sowohl für Patienten in einer frühen als auch einer späten Phase von COVID-19, eine diffuse Schädigung der Alveolen mit einer diffusen Verdickung der Alveolarwand. Zudem wurde, ihnen zufolge, die Bildung von hyalinen Membranen, mononukleären Zellen und intraalveolären Makrophagen beobachtet. Darüber hinaus lagen bei einigen Patienten eine Milzatrophie, eine Hiluslymphknotennekrose, eine fokale Blutung in der Niere, eine vergrößerte Leber mit entzündlicher Zellinfiltration sowie Ödeme und eine zerebrale Degeneration der Neuronen vor. Infektiöse SARS-CoV-2-Viruspartikel aus Proben der Atemwege sowie aus Stuhl- und Urinproben von COVID-19-Patienten deuteten darauf hin, dass eine multiple Organdysfunktion bei schweren COVID-19-Patienten zumindest teilweise durch einen direkten Angriff des Virus verursacht wird, so Hui Li und Kollegen.
Ob SARS-CoV-2 auch andere Organe als die Lunge direkt angreifen kann, insbesondere Organe mit hoher Expression von Angiotensin-konvertierendem Enzym 2 (ACE2) und Organe mit L-SIGN (CD 209L) als mögliche alternative Zellrezeptoren für SARS-CoV-2, müsse weiter untersucht werden. Darüber hinaus bleibe die Frage, wie sich SARS-CoV-2 auf extrapulmonale Organe ausbreitet, ebenfalls ein Rätsel.
Hui Li et al. zufolge konnte gezeigt werden, dass proinflammatorische Zytokine und Chemokine bei COVID-19-Patienten signifikant erhöht waren. Deshalb schlussfolgern die Autoren, dass, wie bei einer schweren Grippeinfektion, der Zytokinsturm eine wichtige Rolle in der Immunpathologie von COVID-19 spielen könnte. So sei in früheren Studien gezeigt worden, dass Lungenepithelzellen, Makrophagen und dendritische Zellen während einer Influenza-Infektion bis zu einem gewissen Grad Zytokine exprimieren. Diese Expression sei auf die Aktivierung von Pattern-Recognition-Rezeptoren (einschließlich der Toll-like-Rezeptoren TLR3, TLR7 und TLR8), des RIG-I-ähnliches Proteins und der Mitglieder der Familie der NOD-like-Rezeptoren zurückzuführen.
Über die Situation bei COVID-19 sei bisher jedoch wenig bekannt. Deshalb sei es entscheidend, die primäre Quelle des Zytokinsturms als Reaktion auf die SARS-CoV-2-Infektion und die zugrundeliegenden virologischen Mechanismen zu identifizieren. Zudem sei es von Bedeutung, die Kinetik der Zytokinaktivierung aufzuklären, also wann die ersten Zytokine freigesetzt werden und um welche es sich hierbei handelt. Auch die Frage, ob eine direkte virusinduzierte Gewebeschädigung, ein systemischer Zytokinsturm oder die synergistische Wirkung beider zur multiplen Organdysfunktion schwerer COVID-19-Patienten beiträgt, müsse, nach Angaben der Wissenschaftler, noch geklärt werden.
Darüber hinaus lohne es sich zu beobachten, ob die Blockade einer dieser proinflammatorischen Mediatoren das klinische Ergebnis beeinflussen würde, so Hui Li und Kollegen. Um die Entzündungsreaktion zu lindern wurden bisher Behandlungsansätze mit einem monoklonalen Anti-IL-6R-Antikörper sowie Kortikosteroiden in Betracht gezogen. Dabei geben die Forscher in ihrer Publikation zu bedenken, dass IL-6 eine wichtige Rolle bei der Einleitung einer vorläufigen Reaktion gegen eine Virusinfektion spielen könnte, indem es die neutrophil-vermittelte Virus-Clearance fördert. So habe eine Studie gezeigt, dass IL-6- oder IL-6R-Mangel bei Mäusen zu einer Persistenz der Influenzainfektion und letztlich zum Tod führte. Und auch der Einsatz von Kortikosteroiden sei nach wie vor umstritten.
Im Anschluss an den Zytokinsturm konnten die Wissenschaftler bei COVID-19-Patienten eine Lymphopenie beobachten, also eine Reduktion der Lymphozytenzahl (hauptsächlich die Anzahl von CD4-T- und CD8-T-Zellen). Dabei habe sich gezeigt, dass der Grad der Lymphopenie mit dem Schweregrad von COVID-19 korrelierte. Der zugrundeliegende Mechanismus sei bisher jedoch unbekannt.
Eine Vermutung der Wissenschaftler ist, dass SARS-CoV-2 in der Lage sein könnte, T-Zellen direkt zu infizieren. So seien in früheren Studien SARS-ähnliche Viruspartikel und SARS-CoV-RNA bereits in T-Lymphozyten nachgewiesen worden. Die RNA konnte auch in Blutproben detektiert werden. Aufgrund der Ähnlichkeit zwischen SARS-CoV und SARS-CoV-2 stellen die Forscher deshalb die Hypothese auf, dass SARS-CoV-2 zusätzlich zur Induktion der Apoptose auch Lymphozyten, insbesondere T-Zellen, direkt infizieren und den Zelltod von Lymphozyten initiieren oder fördern könnte, was schließlich zu einer Lymphopenie und beeinträchtigten antiviralen Reaktionen führt.
Eine solche Hypothese müsse jedoch noch weiter untersucht werden, so Hui Li und Kollegen. Zudem müsse auch ermittelt werden, welche Arten von Zelltod in den Lymphozyten nach einer SARS-CoV-2-Infektion auftreten. Darüber hinaus sei es faszinierend, dass die Lymphozyten keine ACE2-Expression aufweisen, was auf einen alternativen Mechanismus hindeutet würde, durch den SARS-CoV-2 die T-Lymphozyten beeinträchtigt. Ob Alveolarmakrophagen die Viruspartikel phagozytieren und dann auf Lymphozyten übertragen können, sei eine offene Frage in diesem Bereich.
Ein weiterer Aspekt, den Hui Li et al. in ihrer Publikation beleuchten, ist die abnorme Koagulation, die bei COVID-19-Patienten beobachtet werden konnte. Sie führen an, dass in einer Fallserie 71,4 % der Patienten, die eine COVID-19-Erkrankung nicht überlebten, während ihres Krankenhausaufenthaltes die Kriterien einer disseminierten intravaskulären Gerinnung erfüllten und abnorme Gerinnungsergebnisse in späteren Stadien der Erkrankung zeigten. Demnach waren insbesondere erhöhte Konzentrationen von D-Dimer und anderen Fibrin-Abbauprodukten signifikant mit einer schlechten Prognose verbunden.
Die konkreten Mechanismen der Koagulopathie seien jedoch noch nicht identifiziert. So müsse noch erforscht werden, ob SARS-CoV-2 in der Lage ist, vaskuläre Endothelzellen, die hohe Konzentrationen von ACE2 exprimieren, direkt anzugreifen und dann zu abnormaler Gerinnung und Sepsis führen. Zudem ist ACE2 auch ein wichtiger Blutdruckregulator. Deshalb ist eine Überlegung der Autoren, dass eine hohe Expression von ACE2 im Kreislaufsystem nach Infektion mit SARS-CoV-2 teilweise zur septischen Hypotonie beitragen könnte. Und auch der Einsatz einer Inhibitor-Therapie mit Angiotensin-II-Rezeptorblockern (ARB) sowie ACE-Hemmern bei COVID-19-Patienten mit Hypertonie müsse weiter erforscht werden, so Hui Li und Kollegen. So gibt es, den Autoren zufolge, sowohl Wissenschaftler, die vermuten, dass diese Medikamente den betroffenen Patienten zugute kommen könnten, während andere befürchten, dass die Regulation von ACE2 den Viruseintritt in die Zellen eher fördere.
Nach Angaben der Autoren ist eine weitere wissenschaftliche Grundlagenforschung notwendig, um zu untersuchen, ob SARS-CoV-2 direkt vaskuläre Endothelzellen angreift und um die Wirkung von SARS-CoV-2 auf die Gerinnung und Virusverbreitung zu untersuchen. Es sollten, so Hui Li et al., klinische Versuche und Tierversuche durchgeführt werden, um die Wirkung von ARB- und ACE-Hemmern auf den Ausgang einer SARS-CoV-2-Infektion in vivo zu bewerten. Zudem sollten Anstrengungen unternommen werden, um zu untersuchen, ob SARS-CoV-2 Lymphozyten direkt infiziert und wie es die adaptive Immunantwort beeinflusst. Auch die Kinetik der Zytokinreaktion während einer SARS-CoV-2-Infektion müsse darüberhinaus weiter untersucht werden. Des Weiteren sollte die Wirksamkeit immunmodulatorischer Therapien in randomisierten klinischen Studien geprüft werden.
Aufgrund ihrer Hypothese halten die Autoren jedoch eine effektive antivirale Therapie und Maßnahmen zur Modulation der angeborenen Immunantwort und zur Wiederherstellung der adaptiven Immunantwort für unerlässlich, um den Teufelskreis zu durchbrechen und das Outcome der Patienten zu verbessern.
Zudem betonen sie, dass sich ihre Hypothese, auch wenn sie sich später als unvollkommen oder sogar falsch erweisen könnte, mögliche Fragen für die zukünftige Forschung aufwirft.
Quelle: © Hui Li et al. / The Lancet
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