Corona-Tote bloß nicht obduzieren, verkündete das RKI noch im März. Jetzt sehen die Empfehlungen wieder ganz anders aus. Wie kam es zum Sinneswandel?
Sollte angesichts des möglichen Ansteckungsrisikos auf Obduktionen bei COVID-19-Patienten verzichtet werden? Für das Robert-Koch-Institut (RKI) schien die Sache mit einem klaren Ja beantwortet. Dann änderte das Institut seine Meinung und passte seine Empfehlungen an. Zu Kremationsleichenschauen heißt es auf der Website des RKI trotzdem nach wie vor: „Vor der Durchführung sollte daher eine strenge Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen.“
Warum der plötzliche Sinneswandel? Zum Teil hat der Meinungswechsel wohl etwas mit der Tatsache zu tun, dass einige Pathologen sich über die bisherige Richtlinie hinweggesetzt hatten. Zudem hatten Verbände deutscher Pathologen der Empfehlung zum Verzicht auf Leichenschauen bei Corona-Toten bereits Anfang April widersprochen (wir berichteten). Denn Autopsien könnten wichtige Erkenntnisse über die Lungenerkrankung und das auslösende Virus SARS-CoV-2 geben.
Dass Leichenschauen für diesen Wissensgewinn unerlässlich sind, hat man zuletzt eindrucksvoll am Beispiel USA gesehen. Laut einem Artikel in Nature musste die Corona-Timeline der Vereinigten Staaten um einiges nach vorne korrigiert werden. Denn bei der Obduktion eines Anfang Februar Verstorbenen zeigte sich jetzt, dass die Person an COVID-19 gestorben war. Der tatsächliche Todeszeitpunkt des bisher ersten Corona-Toten in den USA war somit mehr als drei Wochen früher als im offiziellen Bericht angegeben worden war.
Auch in Deutschland werden nun vermehrt verstorbene COVID-19-Patienten obduziert, berichtet die Tagesschau. Die Frage, ob ein Toter „am“ oder „mit dem Virus“ gestorben ist, sei dabei wenig zielführend, so ein Pathologe: „Wenn ich eine Krebserkrankung habe und noch ein halbes Jahr lebe und mich ein Auto überfährt, dann mindert das ja auch nicht die Schuld des Autofahrers.“ Die bisher wichtigsten Erkenntnisse hätten bisher feingewebliche Untersuchungen gebracht. „Die wenigsten Patienten hatten eine Lungenentzündung, sondern das, was wir unter dem Mikroskop gesehen haben, war eine schwere Störung der Mikrozirkulation der Lunge“, wird Alexandar Tzankov zitiert. Er ist der Leiter des Fachbereichs Autopsie am Unispital in Basel – in der Schweiz ist die Obduktion selbstverständlich.
Das untersuchte Gewebe habe gezeigt, dass bei erkrankten Patienten der Gasaustausch nicht mehr funktioniere. Das erkläre auch die Probleme, denen Intensivmediziner bei der Beatmung solcher Fälle derzeit oft begegnen, so Tzankov.
Um diese und weitere Erkenntnisse festzuhalten, gibt es jetzt auch in Deutschland ein Register für obduzierte COVID-19-Fälle. Unter Initiative des Instituts für Pathologie der RWTH Aachen sollen darin Meldungen und Obduktionsberichte zu Corona-Toten gesammelt und ausgewertet werden. „Das gesamte Material bleibt dezentral bei den jeweiligen Instituten, und bei allen Anfragen an das Register werden die jeweiligen Institute mit entsprechendem Material gesondert kontaktiert. Das Register wird durch das Institut für Pathologie der RWTH Aachen angelegt und koordiniert“, heißt es in einem Schreiben an unsere Redaktion.
Es sei entscheidend, „breit aufgestellte, auch molekularpathologische, Analysen durchzuführen, die über das kardiorespiratorische System hinausweisen“, halten Vertreter des Bundesverband Deutscher Pathologen fest. Auch die neuropathologische Untersuchung des Hirnstamms und der Hirnnerven könne bei der Erklärung der klinischen Symptomatik helfen. Neuropathologe Dr. José Rafael Iglesias-Rozas teilte auf Anfrage der DocCheck News seine Zustimmung zu diesen Maßnahmen mit. Auch in Spanien werde noch zu wenig obduziert: „Wenn dieser Mangel an Untersuchungen in Form von Autopsien nicht behoben wird, werden wir nie wissen, was passiert ist, als es passiert ist und warum es passiert ist. Eine unglückliche Situation, die gelöst werden sollte.“
Was die Obduktionsberichte bisher gemeinsam haben: Keiner der Verstorbenen scheint ohne Vorerkrankungen gewesen zu sein. Die Untersuchten wiesen Hypertonien und weitere kardiovaskuläre Probleme, Übergewicht oder Adipositas sowie Diabeteserkrankungen auf. Wie die Daten weiter auszuwerten sind, müsse sich zeigen. Die Pathologen rechnen mit ersten verlässlichen Auswertungen in etwa einem halben Jahr, so Karl-Friedrich Bürrig, Präsident des Bundesverbands Deutscher Pathologen, gegenüber der Süddeutschen Zeitung.
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