Das Coronavirus kann Auslöser des Guillain-Barré-Syndroms sein. Dazu liegen drei relevante Publikationen vor.
Anfang April wurde erstmals die Möglichkeit eines SARS-CoV-2-assoziierten Guillain-Barré-Syndroms (GBS) in Lancet Neurology diskutiert. Kurz darauf folgten zwei weitere Publikationen aus Europa, die ein GBS bzw. eine GBS-Variante bei COVID-19-Patienten beschreiben. Das GBS entsteht häufig in Folge von Infektionen, z.B. nach bakterieller Darminfektion oder Infektion mit dem Zytomegalievirus. Nun reiht sich auch SARS-CoV-2 in die Reihe der GBS-auslösenden Erreger ein. Eine Besonderheit: Während es häufig 2-4 Wochen dauert, bis ein Infekt-assoziiertes GBS auftritt, kam es bei den SARS-CoV-2-Infektion bereits nach 5-10 Tagen zu dieser schweren neurologischen Komplikation.
Das Guillain-Barré-Syndrom ist ein schweres neurologisches Krankheitsbild. Durch eine überschießende Autoimmunreaktion, häufig in Folge von Infekten, wird die Myelinschicht der peripheren Nerven geschädigt, sodass die Nervenfasern keine Reize mehr übertragen können. Nachweisbar sind beim GBS oft Autoantikörper gegen Baubestandteile der Nervenmembranen (Ganglioside) im Blut.
Folgen sind Lähmungen (Paresen), die meistens beidseitig in den Beinen beginnen, dann auch die Arme und das Gesicht betreffen. Bei einigen Patienten kann sogar die Atemmuskulatur in Mitleidenschaft gezogen werden, sodass sie beatmet werden müssen. Die Betroffenen erhalten zur Therapie entweder hochdosiert intravenös Immunglobuline oder es erfolgt eine Plasmapherese, ein extrakorporales Blutreinigungsverfahren, bei dem die krankheitsauslösenden Autoantikörper herausgefiltert werden. Oft dauert es viele Wochen, bis sich die Symptome zurückbilden, bei einigen Patienten bleiben dauerhaft neurologische Beschwerden bestehen.
Bekannt ist, dass etwa drei Viertel aller GBS-Fälle in Folge von Infektionen auftreten, sei es durch eine bakterielle Darmentzündung mit Campylobacter jejuni oder einer Infektion der oberen Luftwege mit dem Zytomegalievirus oder anderen Viren. Nun wurde erstmals über SARS-CoV-2-assoziierte GBS-Fälle berichtet.
Der erste Fallbericht eines vermutlich SARS-CoV-2-assoziierten GBS betrifft eine 61-jährige Frau aus China, die mit Paresen der unteren Extremitäten in die Klinik aufgenommen wurde, jedoch keine Atemwegssymptome, Fieber oder Diarrhö aufwies. In den folgenden drei Tagen breiteten sich die Paresen aus. Die Therapie erfolgte mit i.v.-Immunglobulinen. An Tag 8 entwickelte die Patientin Husten, Fieber und wies im Thorax-CT Zeichen einer viralen Pneumonie auf. Der SARS-CoV-19-Rachenabstrich war positiv. Die Autoren diskutieren ein SARS-CoV-2-assoziiertes GBS, da die klassischen respiratorischen COVID-19-Symptome aber erst eine Woche nach Beginn des GBS hinzukamen, müsse auch die Möglichkeit eines zufälligen koinzidenten Auftretens beider Erkrankungen in Betracht gezogen werden.
Doch zwei Wochen später wurde bereits eine Fallserie mit GBS bei fünf italienischen SARS-CoV-2-Patienten veröffentlicht. Von 1.000 bis 1.200 COVID-19-Patienten erkrankten fünf innerhalb von 5-10 Tagen nach Symptombeginn von COVID-19 an einem GBS, drei dieser Patienten mussten maschinell beatmet werden. In der Studie konnte allerdings nicht abgegrenzt werden, ob die Beatmung wegen des GBS oder der respiratorischen Infektion notwendig wurde.
Eine dritte Arbeit aus Madrid stellt zwei Kasuistiken von COVID-19-Patienten mit der GBS-Variante des Miller Fisher-Syndromes (MFS) vor. Im Serum waren MFS-auslösende Gangliosid-Antikörper nachweisbar und beide Patienten hatten SARS-CoV-2-positive Rachenabstriche.
Typischerweise treten das klassische GBS oder das MFS 10 Tage bis zu vier Wochen nach der zugrundeliegenden Infektion auf, also in der Regel, nachdem die Patienten von der Infektionskrankheit genesen sind. Bei SARS-CoV-2-Infektionen hingegen ist das Intervall deutlich kürzer. Alle bisher berichteten Patienten erkrankten bereits 5-10 Tage nach Symptombeginn der COVID-19-Erkrankung.
„Bei beatmeten Patienten auf der Intensivstation stellt das GBS eine wichtige Differentialdiagnose zur sog. Critical Illness-Neuropathie dar, einer peripheren Nervenschädigung, die in der Regel erst später im Krankheitsverlauf bei Patienten auf der Intensivstation auftritt,“ betont Helmar Lehmann von der Neurologischen Universitätsklinik Köln. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, ergänzt: „Die Unterscheidung ist aber relevant, um nicht die Behandlung mit Immunglobulinen zu versäumen.“
Wichtig ist also, dass bei Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom (oder Miller Fisher-Syndrom) abgeklärt wird, ob eine SARS-CoV-2-Infektion vorliegt. Umgekehrt muss bei Patienten mit schweren COVID-19-Verläufen, die beatmet werden müssen, abgeklärt werden, ob nicht ein GBS/MFS eigentliche Ursache der Beatmungspflichtigkeit sein könnte. Das gilt insbesondere, wenn der bildgebende Befund der Lungen nicht auf Organschädigungen deutet, die eine maschinelle Beatmung notwendig machen.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
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