Langes Sitzen und bewegungsarmes Verhalten erhöhen das Risiko für zahlreiche Erkrankungen – unabhängig davon, ob jemand ausreichend Sport treibt. Wissenschaftler haben nun zum ersten Mal untersucht, wie sich langes Sitzen und körperliche Inaktivität effektiv reduzieren lassen.
„Sitzen ist das neue Rauchen“. Dieses Schlagwort ging durch die Medien, seit in den letzten fünf Jahren immer mehr Studien nachweisen konnten, wie gesundheitsschädlich sich stundenlanges Sitzen auswirkt. So fanden amerikanische Forscher in einer großangelegten Studie heraus, dass Dauersitzen die Sterblichkeit erhöht – unabhängig von der Menge an körperlicher Aktivität. Darüber hinaus steigt das Risiko für eine ganze Reihe von Erkrankungen, wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und Krebs. Diese ungünstigen Auswirkungen können auch nicht durch ausreichende sportliche Aktivität ausgeglichen werden. Damit ist moderate bis starke körperliche Aktivität gemeint, die beispielsweise den Empfehlungen der WHO entspricht. Das ist umso problematischer, weil Menschen in den westlichen Industrieländern praktisch ständig sitzen: In der Schule oder Uni, im Büro, beim Essen, im Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln – und schließlich in der Freizeit in Kneipen oder Kinos, vor dem Fernseher oder dem PC. Genau genommen ist mit „Sitzen“ das englische „sedentary behaviour“ gemeint: also „sitzendes“ oder „bewegungsarmes“ Verhalten. Forscher definieren es als jedes Verhalten im Wachzustand, bei dem weniger als 1,5 metabolische Äquivalente an Energie verbraucht werden. Dazu zählen Liegen sowie das ruhiges Sitzen, etwa vor dem Fernseher oder am Schreibtisch.
Nun hat ein Forscherteam um Benjamin Gardner vom King’s College London erstmals untersucht, mit welchen Maßnahmen sich die Zeit des Sitzens effektiv reduzieren lässt. Dazu werteten die Wissenschaftler 26 Studien mit insgesamt 38 unterschiedlichen Maßnahmen aus. Eins der wesentlichen Ergebnisse: Strategien, die darauf abzielten, die Zeit des Sitzens zu verringern, waren effektiver als solche, die eine vermehrte körperliche Aktivität anstrebten. „Dies zeigt, dass Interventionen zur Verringerung bewegungsarmen Verhaltens anders gestaltet sein müssen als Maßnahmen zur Erhöhung der körperlichen Aktivität“, schreiben die Autoren. Darüber hinaus erwiesen sich Maßnahmen der Informationsvermittlung und Überzeugung, praktisches Training und eine Neustrukturierung der Umgebung als hilfreich. Mit letzterem ist zum Beispiel die Einführung von Stehpulten oder höhenverstellbaren Sitz-Steh-Tischen gemeint – oder Meetings, die im Gehen abgehalten werden. Erfolgversprechende psychologische Maßnahmen waren: Informationsvermittlung, zum Beispiel über die günstigen gesundheitlichen Auswirkungen einer geringeren „Sitzzeit“, Hinweisreize („Prompts“), die die Betroffenen an das neue Verhalten erinnern und Feedback über bereits erreichte Veränderungen. Günstig wirkte es sich außerdem aus, wenn sich die Probanden individuelle Ziele setzten, wenn sie ein Protokoll über ihre „Sitzzeit“ führten, und wenn es ihnen gelang, Probleme, die mit dem neuen Verhalten verbunden waren, zu lösen. „Unsere Studie kann keine endgültigen Schlussfolgerungen ziehen“, betonen die Autoren. „Aber sie kann Anregungen geben, wie erfolgversprechende Strategien zur Verminderung von langem Sitzen aussehen könnten.“ Zukünftige Studien sollten überprüfen, welche Maßnahmen tatsächlich am effektivsten sind und wie man diese am besten kombinieren kann, so Gardner und sein Team.
Warum Sitzen so „gefährlich“ ist, erklärt sich aus den körperlichen Veränderungen, die sich bei Inaktivität oder geringer körperlicher Aktivität einstellen. „Der Stoffwechsel und der Kreislauf werden dabei praktisch ‚heruntergefahren‘. Dafür ist der Mensch nicht gemacht“, erläutert Professor Burkhard Weisser, Leiter des Arbeitsbereichs für Sportmedizin und Trainingswissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. „Es kommt zu einer ganzen Reihe von Veränderungen, etwa beim Blutzucker, dem Blutdruck, der Kraft des Herzens und im Bereich des Immunsystems.“ Studien haben gezeigt, dass beim Übergang von aktivem Verhalten zu langem Sitzen oder Liegen schnell deutliche physiologische Veränderungen auftreten: Zum Beispiel im Insulinkreislauf [Paywall] oder beim Cholesterin und den Blutfettwerten. Dies könnte wiederum das Risiko für Typ-II-Diabetes und Übergewicht deutlich erhöhen. Doch welches konkrete Verhalten hilft, den negativen Folgen des „Sitzenbleibens“ entgegenzuwirken? Da könnte es möglicherweise gar nicht so schlecht sein, wenn man von Natur aus ein „Zappelphilipp“ ist. Herumzappeln und das Räkeln auf dem Stuhl wird zwar oft als unhöflich und störend angesehen. Aber eine Studie von Janet Cade und ihrem Team von der Universität Leeds (Großbritannien) legt nahe, dass sich diese Sichtweise ändern sollte.Die Forscher analysierten Fragebogendaten von über 12.700 Frauen im Alter von 37 bis 78 Jahren, die über einen Zeitraum von 12 Jahren beobachtet wurden. Die Ergebnisse legen nahe, dass Frauen, die mäßig bis stark zum „Herumzappeln“ neigen, trotz langen Sitzens kein erhöhtes Sterberisiko haben – im Gegensatz zu Frauen, die wenig herumzappeln. „Die Bewegungen beim Herumzappeln könnten den negativen Einflüssen des langen Sitzens entgegenwirken“, vermuten Cade und ihr Team. Allerdings sollte das „Zappeln“ in zukünftigen Studien mit genaueren, objektiven Maßen erfasst werden. „Insgesamt ist es sinnvoll, das Sitzen regelmäßig durch kurze Bewegungseinheiten zu unterbrechen“, erläutert Burkhard Weisser. „Das Ziel sollte sein, über den gesamten Tag so viel Bewegung wie möglich einzubauen.“ Dabei gehe es gar nicht um Sport, sondern darum, sich überhaupt zu bewegen. „Auf diese Weise kann man dem Körper immer wieder Impulse geben, die den Kreislauf anregen, das Herz stärken und die Aufnahme des Blutzuckers in die Zellen fördern“, erklärt Weisser. So sollte man mindestens einmal in der Stunde aufstehen und zum Beispiel kurz herumlaufen oder etwas Gymnastik machen. Bei der Arbeit könne man regelmäßig zwischen Stehpult und Schreibtisch wechseln und beim Telefonieren aufstehen und herumgehen. „Auch wenn es ungewöhnlich klingt: Es ist durchaus auch möglich, während der Arbeit am Stehpult auf einem Laufband zu gehen oder am Schreibtisch nebenbei in die Ergometer-Pedale zu treten“, sagt der Sportmediziner. Außerdem sollte man „dynamisches Sitzen“ bevorzugen – also einen häufigen Wechsel zwischen verschiedenen Sitzpositionen.
Einzelne Projekte in Firmen oder Schulen setzen bereits Maßnahmen gegen das stundenlange Sitzen um. Allerdings gibt es bisher keine Leitlinien – und keine umfassenden Maßnahmen, die das Problem gesamtgesellschaftlich angehen. „Ich denke aber, dass das allmählich kommen wird, weil das Problem durch die Medien bekannter wird und es immer mehr Forschung dazu gibt“, so Weisser. Allerdings müssten sich auch unsere gesamte Kultur und unsere Umgebung ändern, um die „Sitzkrankheit“ in den Griff zu bekommen, betont James Levine von der amerikanischen Mayo-Klinik in einem Review-Artikel. Arbeitsumgebungen, Schulen und Städte sollten als Orte der aktiven Bewegung gestaltet werden, so der Forscher. „Dann können aus Sitzenbleibern bewegte Menschen werden – und die neue Standard-Haltung wäre nicht mehr ‚sitzend‘, sondern ‚aufrecht und in Bewegung‘.“ Originalpublikationen: How to reduce sitting time? A review of behaviour change strategies used in sedentary behaviour reduction interventions among adults Benjamin Gardner et al.; Health Psychology Review, doi: 10.1080/17437199.2015.1082146; 2015 Sitting Time, Fidgeting, and All-Cause Mortality in the UK Women’s Cohort Study Gareth Hagger-Johnson et al.; American Journal of Preventive Medicine, doi: 10.1016/j.amepre.2015.06.025; 2015