Chinesische Daten zu Remdesivir überzeugen nicht. US-Behörden hingegen haben den Wirkstoff aufgrund neuer US-Daten über Nacht zugelassen. Was wissen wir bisher über den Wirkstoff?
Remdesivir wirkt in Zellkulturen und Tierexperimenten gegen unterschiedliche Coronaviren. Eine klinische Studie, damals ging es jedoch um Ebola, bescheinigte dem Medikament eine gute Verträglichkeit bei schlechter Wirksamkeit.
Daraufhin entschloss sich Gilead, Remdesivir im Rahmen von Compassionate Use-Programmen an Ärzte abzugeben. Eine erste Studie mit 61 Patienten wurde zum medialen Desaster. Zwar besserte sich die Sauerstoffversorgung bei 36 Personen (68 %), und 17 von 30 (68 %) konnten extubiert werden. Forscher kritisierten aber unter anderem die fehlende Placebo-Kontrolle und den Bias bei der Auswahl von Teilnehmern (DocCheck berichtete). Jetzt werden die Karten neu gemischt.
Yeming Wang vom National Clinical Research Center for Respiratory Diseases, Beijing, hat Ende April Resultate einer randomisierten, placebokontrollierten Studie im Lancet veröffentlicht. Das klingt vom Design her schon mal vielversprechend.
Alle Patienten kamen aus Hubei, dem Corona-Epizentrum. Sie hatten eine labordiagnostisch bestätigte Infektion. Zwischen den ersten Symptomen und dem Studienbeginn durften maximal zwölf Tage liegen. Als primären Endpunkt definierte Wang die Zeit bis zur klinischen Besserung auf einer Skala mit sechs Stufen.
Die Studie von Wang und Kollegen wurde vorzeitig abgebrochen, nachdem 237 der vorgesehenen 453 Patienten aufgenommen worden waren, da es bis zum 12. März in Wuhan keine weiteren Patienten mit den Einschlusskriterien mehr gab.
Alle Patienten wurden im Verhältnis zwei zu eins auf intravenöses Remedesivir oder Placebo-Infusionen randomisiert. Die Behandlung dauerte zehn Tage. Andere experimentelle Therapien, etwa Lopinavir-Ritonavir, Interferone oder Kortikosteroide, schlossen die Forscher nicht aus.
Unerwünschte Ereignisse wurden bei 102 (66 %) von 155 Remedesivir- gegenüber 50 (64 %) von 78 Placebo-Patienten gemeldet. Als bedenklich bewerteten die Autoren vor allem ein akutes Atemnot-Syndrom bzw. Atemstillstand (13 % versus 13 %). Ob dies auf Remedesivir zurückzuführen ist, bleibt angesichts der Zahlen fraglich.
Doch das medizinische Ergebnis ernüchtert: In beiden Gruppen gab es keine statistisch signifikanten Unterschiede hinsichtlich des Outcomes auf der Skala mit sechs Punkten.
„Die Studie war gut konzipiert, eine doppelblinde, placebokontrollierte, multizentrische randomisierte Studie, und gut durchgeführt, mit hoher Protokolltreue und ohne Folgeverluste“, schreibt John Norrie von der University of Edinburg in einem Kommentar. Sie sei aufgrund zu weniger Patienten jedoch statistisch „underpowered“ gewesen. Das heißt im Klartext: Verwertbare Ergebnisse hat die Arbeit nicht geliefert.
Es ging Schlag auf Schlag weiter. Forscher am National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) untersuchen Remdesivir im Rahmen der Adaptive COVID-19 Treatment Trial (ACTT). Wie die Studie aufgebaut ist, zeigt ein Blick in das bekannte Register ClinicalTrial.gov.
Ursprünglich war geplant, mindestens 572 Patienten aufzunehmen, besser aber noch 600 bis 800. Damit wolle man sicherstellen, für Abschlussuntersuchungen 400 rekonvaleszente Patienten zu haben. Sie erhalten zehn Tage lang randomisiert Remdesivir oder Placebo.
Jetzt liegen Ergebnisse einer geplanten Zwischenauswertung vor – als Pressemeldung, aber nicht als Veröffentlichung in einem Journal. Patienten im Remdesivir-Arm erholten sich um 31 Prozent schneller, verglichen mit dem Placebo-Arm. Die Zeit bis zur Genesung betrug im Mittel 11 Tage unter Remdesivir versus 15 Tage unter Placebo; ein statistisch signifikanter Unterschied. „Die Ergebnisse deuteten auch auf einen Überlebensvorteil hin, mit einer Sterblichkeitsrate von 8,0 Prozent für die Gruppe, die Remdesivir erhielt, gegenüber 11,6 Prozent für die Placebogruppe“, heißt es in der Meldung. Hier gab es jedoch keine statistische Signifikanz. Angaben zu unerwünschten Effekten fehlen bislang.
NIAID-Chef Dr. Anthony Fauci spricht vom „eindeutig positiven Effekt auf die Verkürzung der Zeit bis zur Genesung“. Und weiter: „Dies hat bewiesen, dass ein Medikament dieses Virus blockieren kann.“ Was denken Kollegen aus Deutschland?
„Nachdem eine vorzeitig abgebrochene und damit nicht aussagekräftige Placebo-kontrollierte Studie zu Remdesivir [die chinesische Studie] kürzlich für mehr Verwirrung als Aufklärung sorgte, wird mit der ACTT-Studie nun erstmalig ein belastbarer Datensatz zur Verfügung gestellt, der eine definitive Aussage zum Stellenwert von Remdesivir bei COVID-19 ermöglicht“, kommentiert Prof. Clemens Wendtner. Er ist Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der dortigen Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing.
Wendtner: „Die ACTT-Studie konnte ausreichend Patienten rekrutieren und ist daher bezüglich des primären Endpunktes belastbar und aussagekräftig.“ Dies zeige, wie wichtig es sei, ausreichend „gepowerte“ Studien durchzuführen und dass voreilige Schlüsse aus anderen unvollständig rekrutierenden Studien eher kontraproduktiv seien. „Dennoch muss auch hier die Vollpublikation der finalen Daten abgewartet werden, um alle Aspekte der ACTT-Studie ausreichend bewerten zu können“, merkt der Experte an.
Als offene Frage bliebt bislang: „Remdesivir zeigt zwar einen Trend für ein besseres Überleben für symptomatische COVID-19-Patienten, aber es stirbt dennoch laut Studie jeder zwölfte Patient an dieser Erkrankung“, berichtet Wendtner. Hier seien die Gründe in der vollständigen Auswertung genau zu betrachten. „So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob eventuell ein früherer Einsatz der Substanz von Vorteil sein könnte, da Sekundärkomplikationen, wie irreversible Lungen- und Nierenschädigungen, verhindert werden könnten.“
Solche Aspekte spielten in Amerika wohl keine Rolle. Denn die FDA erteilte aufgrund der Zwischenauswertung jetzt eine Zulassung für die Anwendung in Notfallsituationen (Emergency Use Authorization, EUA).
Davon lässt sich die Europäische Arzneimittelagentur EMA nicht beeinflussen. In der EU kommt Remdesivir – wie gehabt – nur in klinischen Studien und in Compassionate Use-Programmen zum Einsatz. Dennoch hat die EMA bekanntgegeben, mit einer turnusmäßigen Begutachtung („rolling review“) zu beginnen. Arzneimittelexperten nehmen in regelmäßigen Abständen, etwa alle zwei Wochen, neue klinische Studien unter die Lupe. Das kann im besten Fall zur schnelleren Zulassung führen. „Der Beginn einer fortlaufenden Überprüfung von Remdesivir […] bedeutet nicht, dass seine Vorteile den Risiken überwiegen“, schreibt die Behörde.
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