Die fast surreale Corona-Zeit wirkt wie eine experimentelle Manipulation, die uns Einblicke in Abgründigkeiten von Dingen, Personen oder einfach Begriffen gewährt. Mit dem Wort Freiheit verhält es sich auch so.
Ich beginne mit einer Beobachtung und einer Mutmaßung. Als ich vor über 25 Jahren als Post-Doc für drei Jahre in den USA war, fiel mir positiv auf, wie offensichtlich bereitwillig, cool und diszipliniert die Amerikaner in einer Schlange anstanden, sei es im Restaurant oder am Postschalter. Und das in auffälligem Gegensatz zum Deutschen, der nach kurzer Zeit seinem Unmut über die verschwendete Lebenszeit oder was auch immer beredt Ausdruck geben musste.
Für mich war dieses bereitwillige Warten Ausdruck innerer Freiheit und Souveränität, in dem Bewusstsein, dass man die Notwendigkeit einsah und sich dadurch in keiner Weise in seiner Würde und prinzipiellen Autonomie beeinträchtigt wähnte. Wenn man sich vor Augen führt, wie diszipliniert die Deutschen in den letzten Wochen mit den ganz erheblichen Beschränkungen ihrer Freiheit umgegangen sind, dann muss man zweifelsohne einen Reifungsprozess konstatieren.
Manche meinen, hier weiterhin eine willfährige, im Wesentlichen anal gesteuerte, teutonische Unterwerfungsfreude zu erkennen. Ich halte das für eine Fehlinterpretation, auch wenn der zunächst sprunghaft angestiegene Verkauf von Toilettenpapier diese Annahme nahelegen mag; die Herstellung eines solchen Zusammenhangs scheint mir allerdings einer sehr konkretistischen Sicht der Dinge zu entspringen, zumal Toilettenpapier weltweit vermehrt nachgefragt wird.
Es mag coronabedingt zwar mehr Rotwein in Frankreich getrunken werden, aber der Alkoholkonsum ist laut Aussage eines mir gut bekannten Paketlieferanten auch signifikant in Deutschland angestiegen; wahrscheinlich mit kulturell geprägtem Fokus auf anderen flüssigen Erzeugnissen.
Gehen wir zur Ergründung des Freiheitsbegriffs ein wenig zurück zu Georg Friedrich Wilhelm Hegel, dessen Geburt sich am 27. August 2020 zum 250. Male jährt. Klaus Vieweg hat seine 2019 erschienene Biographie nicht ohne Grund „Hegel – Der Philosoph der Freiheit“ genannt. Freiheit zieht sich wie ein Fluidum durch sein Werk, insbesondere durch die Grundlinien der Philosophie des Rechts.
In der Einleitung dazu findet sich in §15 folgender berühmter Satz:„Wenn man sagen hört, die Freyheit überhaupt sei dieß, daß man thun könne, was man wolle, so kann solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden, in welcher sich von dem, was der an und für sich freye Wille, Recht, Sittlichkeit usf. ist, noch keine Ahndung findet“.
Hier werden die wesentlichen Ingredienzen vor uns ausgebreitet; ganz wesentliche Zutat ist der freie Wille. Mir ist erstmals selber beim mehrmaligen Lesen von Teilen des Originals das Licht aufgegangen, dass es Freiheit selber als Entität eigentlich gar nicht gibt, sondern nur in der Zusammenschau mit dem freien Willen. (Ich eröffne jetzt hier nicht die philosophische oder neurowissenschaftliche Diskussion, ob es einen freien Willen wirklich gibt oder ob er eine Illusion ist. Als wesentlich konstituierendes Element der Geschäftsfähigkeit – das weiß jeder Gutachter, der schon einmal solche Fragestellungen zu bearbeiten hatte – wird in der entsprechenden Literatur selbstverständlich von der Existenz eines freien Willens ausgegangen).
Dieser wählt im Prinzip aus einer theoretisch unendlich großen Menge an Möglichkeiten eine aus. Im Moment vor der Wahl scheint die Freiheit kurz auf; aber damit hat es sich dann auch schon. In dem Moment, in dem das Subjekt eine konkrete Wahl macht, „ist es um die Freiheit geschehen“, um kurz darauf wieder zu erscheinen, weil ja erneut unendlich viele Wahlmöglichkeiten bestehen.
Würde man jetzt einfach so dieses oder jenes wählen und wieder verwerfen, so wie es einem gerade so in den Sinn kommt, dann wäre das in Hegels Augen Willkür, die in Barbarei endet. Man könnte natürlich auch gar keine Entscheidung treffen, um sich weiterhin die volle Wahlmöglichkeit zu erhalten.
Aber auch das ist eigentlich ein Zustand der Unfreiheit, wie man unschwer bei schweren Zwangsstörungen erkennen kann, bei denen der Patient im „Zustand des Prinzipiell-Wählen-Könnens aber letztlich keine Wahl treffend“ stecken bleibt, was interessanterweise als Zustand maximaler Unfreiheit und als extrem belastend empfunden wird.
Die Patienten fühlen sich, als seien sie in Ketten gelegt. Jeder von uns kennt im normalpsychologischen Sinne solche sehr unangenehmen Zustände des „Sich-Nicht-Entscheiden-Könnens“. Bei Hegel fehlt noch das wichtigste Element der Freiheit: Die Wahl der Möglichkeiten wird geleitet bzw. beschränkt durch vernünftige Erwägungen. Die Vernunft bezieht rechtliche und ethische Grundsätze mit ein; ich würde ergänzen: ganz wesentlich auch empirisches Wissen, das von Fachleuten geliefert wird.
Somit ist Hegel in der Corona-Krise hochaktuell und man kann lobend sagen, dass sich unsere Politiker wie auch wir uns alle als vorbildliche Hegelianer erwiesen haben, in dem sie in einer Ausnahmesituation wie skizziert in abgewogener Weise eine Entscheidung getroffen und wir uns darangehalten haben.
Trotzdem erschallen hie und da schrille Töne. Wenn Peter Sloterdijk im Umgang der westlichen Politik mit dem Virus einen aufkommenden Autoritarismus sieht, dann zeigt das in der Tat eine erschreckende intellektuelle Verwirrung und elfenbeintürmerne Entfernung von der Realität.
Vielleicht hat er sich ja sehnlichst gewünscht, der alternde Philosoph, dass er von Frau Merkel gebeten würde, über das Corona-Virus zu philosophieren, ob es einen freien Willen habe, an sich böse sei, vom Herrn den Auftrag erhalten habe, uns zu erleuchten oder was auch immer. Das ist aber bedauerlicherweise nicht geschehen.
Stattdessen befragt sie in viralen Fragen fortwährend als weithin leuchtendes, zeitgenössisches Orakel diesen Herrn Drosten, von dem im Gegensatz zu ihm, dem weltberühmten Philosophen, zuvor noch nie jemand etwas gehört hatte.
Das ist auch richtig so. Von Herrn Sloterdijk und seinesgleichen würden wir in der Tat gern etwas erfahren und lernen, z. B. über Freiheit, über die Frage, was denn gutes Leben sei, über Ausnahmesituationen, über Güterabwägungen et cetera pp. Man sollte halt bei seinem Leisten bleiben.
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