Wer 55 Stunden oder mehr pro Woche arbeitet, erhöht damit sein Schlaganfall-Risiko um bis zu 33 Prozent. Zu diesem Ergebnis kommen die Autoren einer jüngst veröffentlichten Meta-Analyse. In Deutschland sind damit mehr als zwei Millionen Erwerbstätige gefährdet.
Für ihre Meta-Analyse wertete die Gruppe um Professor Mika Kivimäki von der Abteilung für Epidemiologie und öffentliche Gesundheit am University College London, Großbritannien, veröffentlichte und bisher unveröffentlichte Studiendaten aus. Diese umfassten 528.908 Männer und Frauen aus 24 Kohorten in Europa, den USA und Australien. Nach Berücksichtigung von Störfaktoren wie Alter, Geschlecht und sozioökonomischem Status kamen die Forscher zu dem Schluss, dass im Vergleich zu normal langen Arbeitszeiten von 35-40 Stunden pro Woche eine lange Arbeitszeit das relative Risiko für einen Schlaganfall um bis zu einem Drittel erhöht. Dabei stellten die Forscher einen Dosis-Wirkungs-Zusammenhang fest: Bei einer Arbeitszeit von 41-48 Stunden pro Woche stieg das Schlaganfall-Risiko um 10 %, bei einer Wochenarbeitszeit von 49-54 Stunden um 27 % und bei 55 Stunden oder mehr um ganze 33 %. Zu den Schwächen der epidemiologischen Studie zählt, dass die Arbeitszeit auf einer lediglich einmal abgefragten Selbsteinschätzung basierte. Außerdem könnten – wie bei allen Beobachtungsstudien – weitere Störfaktoren, zum Beispiel Arbeitsbelastung oder Schlafdauer, eine Rolle spielen. Trotzdem halten die Autoren die Ergebnisse ihrer Analyse für aussagekräftig: „Die Berücksichtigung aller verfügbaren Studien zu diesem Thema erlaubte es uns, den Zusammenhang zwischen Wochenarbeitszeit und kardiovaskulärem Risiko mit größerer Genauigkeit zu analysieren als das bisher möglich war“, erklärt Prof. Kivimäki. „Angehörige der Gesundheitsberufe sollten sich darüber im Klaren sein, dass lange Arbeitszeiten mit einem deutlich erhöhten Schlaganfall-Risiko und eventuell auch einem erhöhten KHK-Risiko einhergehen.“
Schlaganfall und Herzinfarkt sind multifaktorielle Erkrankungen, deren Genese von vielen interagierenden Risikofaktoren geprägt ist. Zu diesen zählen beispielsweise Sport, Ernährung, Gewicht, Rauchen und Stress, die alle bekanntermaßen einen beträchtlichen Einfluss auf das kardiovaskuläre Risiko haben. Trotzdem sollte der nun entdeckte Effekt der Arbeitszeit nicht vernachlässigt werden. „Selbst wenn ein um 30 % erhöhtes Risiko recht gering für eine Einzelperson ist, sollten die Leute trotzdem daran denken“, meint Professor Urban Janlert von der Universität Umeå in Schweden, der ein Editorial zur Lancet-Studie verfasst hat. Ähnlich sieht dies auch der Erstautor der Lancet-Studie: „Personen, die lange arbeiten, sollten besonders darauf achten, einen gesunden Lebensstil zu pflegen und sicherstellen, dass Blutdruck und Lipide im Normalbereich liegen“, so Prof. Kivimäki. Doch nicht nur der individuelle Arbeiter trägt eine Verantwortung – auch Politik und Gesellschaft sind in der Pflicht. „Das Hauptproblem ist der Aspekt der öffentlichen Gesundheit – selbst, wenn das Individualrisiko nicht alarmierend ist, bedeutet die hohe Zahl an Personen mit langen Arbeitszeiten, dass es in der Gesamtpopulation zu einer großen Anzahl von Schlaganfällen kommen wird“, warnt Prof. Janlert. Im Gegensatz zu anderen gesundheitlich ungünstigen Bedingungen, die in der Natur der Arbeit liegen und nur schwer zu ändern sind, beispielsweise Schichtarbeit, Lärmexposition oder extreme Temperaturen, kann über die Dauer eines Arbeitstages nämlich bewusst entschieden werden. „Im Grunde genommen gilt: Wenn lange Arbeitszeiten eine Gefahr für die Gesundheit darstellen, sollte es möglich sein, sie zu ändern“, so Prof. Janlert im Lancet-Editorial.
In der EU ist die Arbeitszeitgestaltung zwar durch die Richtlinie 2003/88/EC geregelt, in der die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet werden, die wöchentliche Arbeitszeit so zu regeln, dass eine durchschnittliche Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche (einschließlich Überstunden) nicht überschritten wird. Doch die Realität sieht für viele Beschäftigte anders aus. In Europa schwankt der Anteil der Langarbeiter drastisch von Land zu Land: Am längsten arbeiten die Menschen in der Türkei – dort beträgt der Anteil der Personen, die mehr als 50 Stunden pro Woche im Job verbringen, ganze 40,9 %. In den Niederlanden sind es dagegen nur 0,4 % und in Dänemark 2 %. Hierzulande arbeiten 5,2 % der Erwerbstätigen mehr als 50 Stunden pro Woche – Deutschland liegt damit deutlich unter dem Durchschnittswert der OECD-Länder (13 %). Wenn man sich jedoch die Entwicklung der Arbeitszeit in Deutschland genauer ansieht, gibt es durchaus Grund zur Sorge. Zwar ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die durchschnittliche Arbeitszeit von Vollbeschäftigten seit 1991 relativ konstant geblieben – 2014 betrug sie 41,5 Stunden pro Woche. Doch der Anteil der Personen, die 45 Stunden oder mehr pro Woche arbeiten, hat sich in den letzten 10 Jahren deutlich erhöht: Bei den Männern von 9,9 % im Jahr 2004 auf 13,7 % im Jahr 2013, und bei den Frauen im selben Zeitraum von 2,9 % auf 4,4 %. Wenn sich der Trend weiter fortsetzt, drohen einer immer größeren Zahl von Erwerbstätigen schwere gesundheitliche Folgen.
Über die Gründe, warum eine überdurchschnittlich lange Wochenarbeitszeit mit einem erhöhten Schlaganfall-Risiko assoziiert ist, können die Autoren der Lancet-Studie nur spekulieren. Es sind aber grundsätzlich zwei Wege denkbar: Einerseits könnte sich eine hohe Anzahl an Arbeitsstunden negativ auf die Zeit auswirken, die dem Organismus zur Regeneration zur Verfügung steht. Andererseits geht eine lange Arbeitszeit häufig mit ungesundem Verhalten wie Rauchen, Kaffee-/Alkoholkonsum, ungesunder Ernährung und einem Mangel an Bewegung einher. Selbstverständlich können sowohl unzureichende Regeneration als auch Lebensstilfaktoren gleichzeitig am Werk sein. Aus diesem Grund fordert Prof. Janlert im Editorial zur Lancet-Studie dazu auf, die Ergebnisse experimentell zu überprüfen und dabei auch intermediäre Mechanismen wie Stressantwort, Blutdruck und Schlafdauer zu untersuchen. Er ist sich sicher: „Die Konsequenzen von langer Arbeitszeit und nicht die langen Arbeitszeiten allein sind die zugrundeliegende Ursache für die Ergebnisse von Kivimäki und Kollegen.“ Bis es soweit ist, liegt es an uns, diesem neu identifizierten Risikofaktor Rechnung zu tragen – oder eben auch nicht.