Um die Porno-Industrie auch in Zeiten von HIV aufrecht zu erhalten, haben amerikanische Produzenten in den 90er Jahren ein Konzept entwickelt: Darsteller werden lückenlos getestet, Kontakte nachverfolgt. Könnte das System nun als Corona-Blaupause dienen?
Ab den 1980er-Jahren verbreitete die HIV/AIDS-Pandemie Angst und Schrecken. Allein für Amerika nennen die Centers of Disease Control and Prevention für das Jahr 1985 rund 420.000 Infizierte, bei 130.000 Neuinfektionen im Jahr. Eine HIV-Infektion verlief damals noch tödlich. Aus finanzieller Sicht wäre die Pandemie damals auch beinahe für die US-Pornoindustrie tödlich gewesen.
Deshalb wurde Anfang der 1990er-Jahre ein Konzept entwickelt, das vorsah, die Darsteller alle 14 Tage auf HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen zu testen. Daten, die im Rahmen des sogenannten PASS-Programm (Performer Availability Scheduling Services) erhoben werden, werden zentral dokumentiert. Man ging damals folgendermaßen vor: Positive Tests führten nicht nur zu einer Sperre der Darsteller. Vielmehr suchten Ärzte auch nach möglichen Kontaktpersonen und testeten diese ebenfalls. Laut Medienberichten gab es seit 2004 keine HIV-Übertragung an einem US-Set mehr. PASS sichert letztlich Arbeitsplätze in einer Branche, die AIDS ansonsten kaum überstanden hätte.
Das Vorgehen ließe sich möglicherweise auf die Gesellschaft und unseren Umgang mit SARS-CoV-2 übertragen. „Die Erotikfilm-Industrie lehrt uns, dass dies als Proof of Concept funktionieren kann. Wir müssen es nur vergrößern“, sagt dazu Ashish Jha ein Arzt, der das Global Health Institute der Harvard University leitet.
Wie könnte eine Umsetzung in der derzeitigen Situation aussehen?
Um für neuartige Coronaviren ein System wie bei PASS aufzubauen, läuft nichts ohne zuverlässige Tests. Und zuverlässige Tests sind keineswegs selbstverständlich, wie ein Blick in die Literatur zeigt. Trotz engmaschiger Screenings wurden bei PASS in einer kleinen Stichprobe mit 360 Porno-Darstellerinnen rund 24 Prozent positiv auf Chlamydien beziehungsweise Gonorrhoe getestet. Ärzte fanden ein Drittel dieser Infektionen im Hals oder im Rektum. Die zuvor üblichen Urintests hatten also keinen Nutzen.
Um derartige Fehler bei SARS-CoV-2 zu vermeiden, denken Forscher über ein mehrstufiges Protokoll nach. Es muss möglich sein, beispielsweise über RT-PCR-Tests, aktive Infektionen zu erkennen. Außerdem müssen Blutproben auf Antikörper gegen das Coronavirus untersucht werden, um Personen mit Immunität zu erkennen. Dafür eignen sich ELISA-Tests.
Wenn man PASS als Vorbild nimmt, wären engmaschige Untersuchungen bei jedem Einwohner notwendig. Ob es Herstellern gelingt, solche Mengen an Testkits zu produzieren, steht in den Sternen.
Hinzu kommt das Problem, dass derzeit laut WHO noch ungewiss ist, ob überstandene Infektionen mit SARS-CoV-2 wirklich Immunität verleihen. Mitunter seien die Titer neutralisierender Antikörper im Blut recht niedrig, schreibt die WHO.
Doch es gibt auch gute Nachrichten: Nach einer Impfung inklusive Antikörper-Nachweis bräuchte es keine weiteren Screenings mehr.
Wenn man also das PASS-Konzept auf die COVID-19-Pandemie übertragen würde, könnte man folgenden Individuen mehr Rechte und Bewegungsfreiheit zugestehen:
Gründliche Testverfahren sind nur die halbe Miete. Alle Informationen müssen sicher, aber dennoch für Berechtigte gut zugänglich abrufbar sein. Beim PASS-System sehen Verantwortliche anhand einer ID-Karte nur den Status. Ein grüner Haken steht für die Einsatzfähigkeit eines Darstellers, ein rotes X für die Sperre – nicht unbedingt aufgrund einer HIV-Infektion, sondern auch, falls aktuelle Tests fehlen. Weitere Informationen bekommt man nicht.
Der von Jens Spahn gesetzlich geplante, aber dann auf halbem Weg gestoppte Immunitätsausweis wäre ein modernes Pendant zur PASS-Datenbank gewesen. Entwickler wollten mit der Blockchain-Technologie arbeiten. Das geht so: Ärzte testen viele Personen mehrfach, bis neutralisierende Antikörper im Blut auftauchen. Bei jeder Untersuchung wird mit kryptographischen Verfahren dem ursprünglichen Datensatz ein weiterer Block hinzugefügt. Alle Daten landen pseudonymisiert in einer DSGVO-konformen Cloud. Wer sie abrufen darf, entscheidet der Betroffene selbst mit einem digitalen Schlüssel auf seinem Smartphone. Auch eine erfolgreiche, noch nicht verfügbare Impfung könnte hier dokumentiert werden.
Ein wichtiger Aspekt von PASS ist auch, dass Ärzte bei positiven HIV-Tests Kontakte der Infizierten nachverfolgen. Bei SARS-CoV-2 wird die Sache schwieriger, aber keineswegs unlösbar. Telefonische Interviews oder Fragebögen sind hier sicher der falsche Weg. Aber genauso arbeiten derzeit Gesundheitsämter.
Die Alternative: Beim Contact Tracing erkennt eine App andere Smartphones innerhalb von maximal zehn Metern über Bluetooth Low Energy. Die App kann deren Besitzer später warnen, falls eine Person, die sich in ihrer Nähe befunden hat, positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden ist. Dann sind Kontakte zu isolieren und RT-PCR-Untersuchungen stehen an. Untersuchungen zeigen, dass sich eine Massenquarantäne durch solche Apps vermeiden lässt.
Umso mehr überrascht die Diskussion in Deutschland. Während des Lockdowns wurden ohnehin bereits Grundrechte eingeschränkt. In diesen Zeiten auf Datenschutz zu pochen und Apps den Weg zu versperren, wird von vielen unpassend empfunden, da es immerhin um Menschenleben geht. „Angesichts dessen, dass wir uns derzeit der größten Krise seit 1945 stellen müssen, ist es vollkommen unverhältnismäßig, den Erfolg eines der wenigen zur Verfügung stehenden Lösungsweges so zu gefährden“, sagt Marco Junk vom Bundesverband Digitale Wirtschaft. Zuvor hatten Experten in einem offenen Brief die Technologie scharf kritisiert.
PASS zeigt auch, wie wichtig gleiche Rahmenbedingungen in Bundesstaaten oder Nachbarländern sind. Denn als in Los Angeles Behörden Tests und Kondome an Filmsets einforderten, verlegten Produzenten ihre Drehs einfach in weniger restriktive US-Bundesstaaten.
Das heißt: Im Idealfall müssten Daten eines Immunitätsausweises bei jedem Grenzübertritt und bei jeder Flugreise in Europa eingesehen werden. Arbeitgeber in sensiblen Bereichen wie Krankenhäusern oder Altenheimen könnten sollten solche Resultate möglicherweise auch einsehen können.
Woran könnte es scheitern?
Bleibt als Fazit: PASS könnte gut zum Muster eines Systems werden, das Personen ohne SARS-CoV-2-Infektion oder mit nachgewiesenen Antikörpern mehr Rechte gibt. Die Technik ist beherrschbar und mittelfristig sprechen auch die Testungen, die in größerem Stil durchgeführt werden müssten, nicht dagegen. Die Finanzierbarkeit sollte ebenso kein KO-Kriterium sein, obwohl über höhere Kassenbeiträge gesprochen werden müsste.
Scheitern könnte ein Projekt vor allem an der fehlenden Akzeptanz in der Bevölkerung – und an der mangelnden Bereitschaft von Politikern, ein derartiges Konzept durchzudrücken.
Bildquelle: Dainis Graveris, unsplash