Experten vermuten, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern und Frauen während der Corona-Krise weiter zunimmt. Ob sich das nun bewahrheiten wird oder nicht: Wir müssen als Ärzte immer genau hin sehen.
Straftaten gegen Kinder gehen uns alle an, denn Kinder gehören zu den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft und können sich selbst nur bedingt oder gar nicht helfen. Dieses Problem hat zu Recht inzwischen eine breite Öffentlichkeit erreicht, spätestens nach Bekanntwerden der Missbrauchsskandale in verschiedenen Einrichtungen – und den leider nur schleppend anlaufenden Aufarbeitungsprozessen.
Beim Erkennen möglicher gefährdender Konstellationen darf niemand wegschauen, insbesondere nicht im medizinischen Bereich. Die häusliche Isolation während der COVID-19-Pandemie könnte die traurigen Fallzahlen von Gewalttaten und Misshandlungen nun weiter in die Höhe treiben, befürchten Experten.
Auf einer Pressekonferenz am 11. Mai 2020 wurde die polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2019 vorgestellt. Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), erinnerte daran, dass es sich hierbei nur um sogenannte „Helldaten“ handelt und man die Dunkelziffer nur erahnen könne. In Deutschland wurden im vergangenen Jahr 112 Kinder Opfer eines vollendeten Tötungsdeliktes, 95 davon waren jünger als 6 Jahre alt.
Die Anzahl der Kinder, die sexuelle Gewalt erlitten, stieg um 9 % auf nahezu 16.000 Fälle an. Damit werden pro Tag in Deutschland 43 Kinder Opfer von sexuellen Misshandlungen. Kinderpornographische Delikte im Internet kamen in 12.262 Fällen zur Anzeige, das bedeutet einen Zuwachs von 65 % im Vergleich zum Vorjahr. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen werden immer mehr Fälle registriert, in denen Jugendliche kinderpornografische Inhalte über Messenger-Dienste teilen. Die Gründe seien hier nicht eindeutig, Pädosexualität schließt das BKA in den meisten Fällen aber aus. Die strafrechtliche Konsequenz der verbreiteten Medien sei den Jugendlichen nicht bewusst. Zum anderen werden durch sensitivere Ermittlungsverfahren immer mehr Straftaten aufgedeckt.
Münch schloss nicht aus, dass die häusliche Isolation während der Corona-Krise zu einer weiteren Erhöhung dieser Zahlen führen könnte. Bislang lägen zwar noch keine validen Zahlen vor, aber man gehe von einem großen Dunkelfeld aus. Momentan fehle der Zugang zu Vertrauenspersonen außerhalb von Familie und häuslicher Umgebung, die nicht selten auch Tatort ist.
Dazu kommen die räumliche Enge und wirtschaftliche Probleme. Das Risiko, so Münch, dass aktuell der Missbrauch durch Internetpornografie zunimmt, sei besonders hoch. Denn durch die derzeit besonders intensive Nutzung des Internets laufen Kinder und Jugendliche Gefahr, online Opfer von sexuell motivierten Attacken zu werden (z. B. durch sogenanntes Cybergrooming oder Fotografien, sogenannte „Dick-Pics“). Unerfahrene junge Internetnutzer könnten sich, gerade angesichts der Krise und eventueller familiärer Probleme, vorschnell Fremden im Internet anvertrauen und so auch sexuell ausgenutzt werden. Vor allem das soziale Umfeld sei daher nun gefordert, aufmerksam hinzuschauen und, wenn nötig, Strafanzeige zu stellen.
„Scham und Schuldgefühle verhindern oft, dass sich Betroffene jemandem anvertrauen können“, so die Diplom-Sozialpädagogin Dagmar Stumpe-Blasel in einem Interview mit der Badischen Zeitung. Sie ist Mitarbeiterin bei „Aufschrei“, Beratungsstelle und eingetragener Verein gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Erwachsenen.
Stumpe-Blasel plädiert dafür, sich frühzeitig Unterstützung in einer Fachberatungsstelle oder beim Jugendamt zu holen, wenn es Hinweise auf sexuelle Gewalt im persönlichen oder beruflichen Umfeld gibt. „Wir erleben, dass es für Betroffene sehr schwer bis unmöglich ist, den innerfamiliären sexuellen Missbrauch anzuzeigen. Ein Strafverfahren ist für Betroffene meist sehr belastend.“ Auch bei „Aufschrei“ gibt es noch keine konkreten Zahlen darüber, ob die häusliche Isolation in der Corona-Krise die Anzahl sexueller Übergriffe bisher erhöht hat. „Erst gingen die Anfragen von Ratsuchenden zurück, langsam steigen sie wieder“, so die Sozialpädagogin.
In Deutschland wird jährlich jede dritte Frau Opfer von Gewalt. Dabei handelt es sich um Körperverletzungen, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, Freiheitsberaubungen, Bedrohungen, bis hin zu Tötungsdelikten. Etwa ein Viertel aller Frauen erlebt Gewalt in der Partnerschaft. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht hierin, wie in allen anderen Formen sexueller Übergriffe an Frauen, weltweit deren größtes Gesundheitsrisiko.
Mitarbeiter im Gesundheitssystem sind nicht selten die erste Anlaufstelle, wenn es um typische körperliche Verletzungen wie Hämatome, Frakturen, und Platzwunden, aber auch psychische und psychosomatische Symptome geht. Treten bisher unbekannte Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Ängste, Panikattacken oder posttraumatische Belastungsstörungen jeglicher Art auf, ist genaues Hinhören erforderlich. Ebenso bei Medikamentenmissbrauch, Drogenkonsum oder Alkohol- und Nikotinabusus.
Die Gewalt gegen Frauen könnte ebenfalls während der Corona-Krise weltweit zunehmen. Häusliche Isolation, wirtschaftliche Engpässe und mangelnde Perspektiven könnten die Dynamik ohnehin angespannter Konstellationen verschärfen. Auch hier ist es aber noch zu früh, um auf Berichte und Fallzahlen aus sozialen Einrichtungen, wie etwa Frauenhäuser, zurückzugreifen.
In der gynäkologischen Sprechstunde gibt es neben den typischen Hinweiszeichen auf eine mögliche Gewalterfahrung noch weitere spezifische Merkmale, die einen sexuellen Übergriff in die Differentialdiagnose miteinfließen lassen.
Kleine Mädchen mit vaginalem Ausfluss, insbesondere mit Hinweiszeichen auf sexuell übertragbare Krankheiten wie Chlamydien oder Trichomoniasis, fallen in diesen Bereich. Rissverletzungen, Hämatome oder ungewöhnliche Rötungen des äußeren Genitals bei Kindern, mitunter auch bei erwachsenen Frauen, gehören dazu. Eine klaffende Analöffnung bei Kindern ist höchst verdächtig.
Weiterhin können unklare Unterbauchbeschwerden und auffällig verändertes Sozialverhalten bei Kindern auf eine Missbrauchsgeschehen hinweisen. Oftmals nässen Kinder plötzlich nachts wieder ein und haben häufiger Albträume. Manche Patientinnen vertrauen sich auch innerhalb der gynäkologischen Sprechstunde mit diesen Sorgen um ihr Kind an. Schwangerschaften bei sehr jungen Patientinnen, die den Kindsvater unbedingt geheim halten möchten, können möglicherweise ein Hinweis auf ein Missbrauchsgeschehen sein.
Sexueller Missbrauch und Gewalt gegen Frauen sind äußerst sensible Themen in der gynäkologischen Sprechstunde. Hier ist absolutes Fingerspitzengefühl gefragt. Zeitdruck und schnelles Übergehen zum Routineablauf sind kontraproduktiv.
Wichtig ist, zunächst überhaupt an die Möglichkeit von sexualisierter Gewalt zu denken, wenn entsprechende Hinweiszeichen oder Konstellationen vorliegen. Allerdings ist die Gratwanderung, auf die man sich hierbei begibt, enorm: Sowohl ein nicht aufgedeckter Missbrauch als auch ein zu Unrecht beschuldigter Tatverdächtigter können Familien und Leben zerstören. Aus diesem Grund halte ich Beratung und Hilfestellung durch Fachleute für äußerst wichtig. Man kann die Situation anonymisiert schildern und sich kompetenten Rat über weitere Vorgehensweisen einholen.
Sehr entlastend ist es, wenn die Betroffenen selbst bereit sind, sich Experten anzuvertrauen, um das weitere Prozedere, wie Strafanzeige und psychosoziale Betreuungsangebote, abzustimmen. Ich sehe meine Aufgabe als Gynäkologin hier zunächst im Erkennen von Missbrauch und Gewalt, danach im Beraten und Weiterleiten an entsprechende Fachkompetenzen.
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