Um SARS-CoV-2 zu besiegen, brauchen wir Impfstoffe dringender denn je. Welche Strategien gibt es und wie weit sind wir von einem Impfstoff noch entfernt?
„Ohne einen Coronavirus-Impfstoff werden wir nie wieder normal leben können“, sagt Professor Dr. Peter Piot, Direktor der London School of Hygiene & Tropical Medicine. „Die einzige wirkliche Ausstiegsstrategie aus dieser Krise ist ein Impfstoff, der weltweit eingeführt werden kann.“ Piot ist kein Unbekannter. Er hat zusammen mit Kollegen das Ebolavirus entdeckt, an HIV/AIDS-Kampagnen mitgewirkt – und ist vor mehreren Wochen selbst zum COVID-19-Patienten geworden.
Wie er berichtet, arbeiten Forscher weltweit an Vakzinen. Die WHO nannte Mitte Mai 118 Projekte aus diversen Labors. So unterschiedlich die Ansätze auch sind – es gibt Parallelen. Basis jeder Impfstoffentwicklung sind Analysen des viralen Genoms. Oberflächenproteine oder Proteinfragmente, speziell bei SARS-CoV-2 das Spike-Protein, sorgen für neutralisierende Antikörper im Körper. Mit diesem Wissen lassen sich Vakzine nach ganz verschiedenen Prinzipien designen.
Als moderne Strategie gelten genbasierte Impfstoffe. Sie umgehen die Hürde, Proteine in vitro zu synthetisieren und dann Patienten zu injizieren. Vielmehr wird die DNA-Sequenz eines SARS-CoV-Antigens in einem bakteriellen Plasmid verpackt. Es enthält flankierende Sequenzen, um zu garantieren, dass das relevante Gen auch stark exprimiert, also abgelesen, wird. Das geschieht direkt in den Zellen des menschlichen Körpers, sobald Ärzte den Impfstoff gespritzt haben. Im Körper entsteht per Proteinbiosynthese das relevante Eiweiß und eine Immunantwort wird ausgelöst. Nach jetzigem Stand der Forschung sind dafür starke Adjuvanzien erforderlich: ein Nachteil dieser Strategie.
Große Hoffnungen setzt man derzeit in RNA-Impfstoffe. Wie das Science Media Center schreibt, könnten sich RNA-Impfstoffe womöglich besonders als Pandemieimpfstoffe eignen. Sie ließen sich im Vergleich zu konventionellen Impfstoffen sehr viel schneller und in erheblich größeren Mengen herstellen.
Auch bei RNA-Impfstoffen synthetisiert man im Labor Gensequenzen, die für immunologisch wichtige Proteine des neuartigen Coronavirus codieren. Weil RNAs im Körper leicht abgebaut werden, ist eine Stabilisierung über chemische Modifikationen notwendig. Man kann aber auch die RNAs in Nanopartikel verkapseln und so spritzen. Die Immunantwort ist stärker als bei DNA-Vakzinen.
An dem Thema arbeiten beispielsweise Arcturus Therapeutics, CureVac, Inovio, BioNTech / Pfizer / Fosun Pharma, das Imperial College London, sowie das OpenCorona-Konsortium. Der Impfstoff namens mRNA-1273 von Moderna ist in den letzten Tagen in die Schlagzeilen geraten. In einer laufenden Phase-I-Studie wurde bei ersten Probanden offenbar eine gute Schutzwirkung erzielt.
In Deutschland startete kürzlich die erste klinische Studie mit RNA-Impfstoffen von BioNTech. Auch CureVac berichtet von Erfolgen im präklinischen Bereich. Deutsche Firmen spielen ganz vorne mit bei der Entwicklung neuer, genbasierter Impfstoffe.
Auf der Gentechnologie basiert auch ein weiteres Prinzip der Impfstoffforschung. Man verwendet Viren, die für Menschen harmlos sind, aber Zellen infizieren und sich vermehren. Dazu gehören das Virus aus Masernimpfstoffen, das Adenovirus Serotyp 26 oder das Modifizierte Vaccinia-Virus Ankara. Alle Erreger wurden genetisch vollständig charakterisiert. Es ist möglich, in ihr Erbgut Sequenzen von SARS-CoV-2-Oberflächenproteinen einzubringen. Im Körper entstehen Eiweiße, die unserem Immunsystem eine Infektion mit neuartigen Coronaviren vortäuschen. Auch hier ist das Ziel, neutralisierende Antikörper zu erzeugen.
In dem Bereich arbeiten u.a. Janssen (Johnson & Johnson), das DZIF, die University of Oxford und das Konsortium ReiThera / Leukocare / Univercells. Ein in der EU bereits zugelassener Ebola-Impfstoff basiert auf viralen Vektoren.
Das Impfen mit Totimpfstoffen ist eine seit Jahrzehnten etablierte Strategie. Im Fall von Corona inaktivieren Forscher SARS-CoV-2-Viren chemisch. Die Bestandteile im Impfstoff lösen ebenfalls eine Immunantwort aus. Es ist aber auch möglich, Virusfragmente gentechnologisch herzustellen und einzusetzen. Studien laufen u.a. laut WHO beim Beijing Institute of Biological Products / Sinopharm, bei Clinicaltrialsarena, Sinovac Biotech, bei der University of Queensland / GSK / Dynavax sowie beim Galilee Research Institute / MigVax.
Theoretisch ist es auch möglich, SARS-CoV durch mehrmalige Zellpassage oder durch gezielte Mutagenese so zu verändern, dass es nur noch schwache Infektionen, aber keine COVID-19 mehr auslöst. Das Prinzip kennen Ärzte unter anderem von Mumps-, Masern- bzw. Röteln-Lebendimpfstoffen. In dem Bereich sind kurzfristig keine Durchbrüche zu erwarten. Solche Entwicklungen dauern Jahre.
Die Arbeit mit „intakten“ Viren – sei es für die Herstellung von Totimpfstoffen oder abgeschwächten Lebendviren – hat zwei Nachteile. Man braucht Anlagen mit höchsten Sicherheitsstandards. Und es lassen sich anders als bei vollsynthetischen DNA- oder RNA-Vakzinen in kurzer Zeit keine beliebig großen Mengen herstellen. Denn biotechnologische Reaktionen kosten Zeit, chemische Reaktionen mit Nukleinsäuren sind da viel schneller.
Auch der Tuberkulose-Impfstoff Bacillus Calmette-Guérin (BCG) könnte auf Umwegen zu neuen Ehren kommen. BCG ist ein abgeschwächter Lebendimpfstoff aus Mykobacterium bovis. Er führt nicht nur zu einer Immunität gegen Tuberkulose, sondern schützt auch gegen Influenza- oder gegen humane Papillomaviren. Kurzfristig gilt die Strategie nicht als vielversprechend.
Bleibt als Fazit: Genbasierten Vakzine, Lebendimpfstoffe mit Vektorviren oder Totimpfstoffe gelten als heiße Kandidaten gegen SARS-CoV-2. Etliche klinische Studien der Phase 1 laufen schon oder beginnen spätestens im Juni. Ob es Ende 2020 oder erst Mitte 2021 Impfstoffe geben wird, weiß niemand. Wahrscheinlich machen mehrere Firmen das Rennen. Um Zeit zu gewinnen, beginnen Hersteller teilweise schon jetzt, also vor der Zulassung, mit der Produktion.
Die Schlacht gegen Corona ist selbst nach einer Zulassung noch nicht gewonnen. Schon heute zeigen sich erste Anzeichen eines drohenden Verteilungskampfes. Sanofi wollte die USA aufgrund einer finanziellen Forschungsunterstützung früher beliefern, ruderte nach massiver Kritik aber zurück.
Auch bei der Produktion derartig großer Impfstoffmengen wird es vermutlich Probleme geben. Selbst vermeintlich banale Gegenstände wie die Glasampullen, in denen der Impfstoff aufbewahrt wird, könnten dabei zum Flaschenhals werden, vermuten Experten.
Und nicht zuletzt sind Patienten unkalkulierbar. „Heute gibt es das Paradoxon, dass manche Menschen, die ihr Leben Impfstoffen verdanken, nicht mehr wollen, dass ihre Kinder geimpft werden“, kommentiert Piot. „Das könnte zu einem Problem werden, wenn wir einen Impfstoff gegen das Coronavirus einführen wollen, denn wenn sich zu viele Menschen weigern, werden wir die Pandemie niemals unter Kontrolle bekommen.“
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