Eine kurze Chorprobe und schon ist es geschehen: Eine Vielzahl weiterer Teilnehmer ist angesteckt. Aber wie kommt es eigentlich, dass einige Menschen SARS-CoV-2 so viel stärker verbreiten als andere?
Während der COVID-19-Pandemie gibt es immer wieder Berichte über sogenannte Superspreader. Damit sind Infizierte gemeint, die eine vegleichsweise hohe Zahl anderer Menschen anstecken. Bei ihnen liegt die Zahl der direkt Infizierten deutlich über der Basisreproduktionszahl R₀.
Der erste größere Ausbruch in Südkorea etwa ist auf nur eine einzige Infizierte zurückzuführen, die bei einem Gottesdient 40 Menschen angesteckt hat. Ein anderes Beispiel kommt aus Deutschland: Hier steckte ein Infizierter während einer 2-stündigen Chorprobe knapp 60 Teilnehmer an. Doch wie kommt es, dass einige wenige Menschen überhaupt in der Lage sind, so viele andere anzustecken?
Bislang dreht sich bei der Diskussion um die Ausbreitung von SARS-CoV-2 alles um die Reproduktionszahl R. Ohne Distanzierungsmaßnahmen schätzt man sie beim neuen Coronavirus auf 3. Das bedeutet, dass ein Inifizierter drei weitere Personen ansteckt. Doch im wahren Leben sieht das anders aus, sagt James Lloyd-Smith von der University of California, Los Angeles. Er kommentiert gegenüber Science: „Das konsistente Muster ist, dass die häufigste Zahl Null ist. Die meisten Menschen übertragen das Virus nicht.“
Zusätzlich zu R nutzen Wissenschaftler deswegen auch den Verteilungsfaktor k. Dieser beschreibt, wie viele Cluster bei einer Infektionskrankheit auftreten. Je kleiner die Zahl, desto eher kommt die Übetragung von nur wenigen Personen. Bei den SARS- und MERS-Epidemien spielten sogenannte Superspreader Events nachweislich eine große Rolle bei der Ausbreitung.
Llyod-Smith hatte 2005 in einer Nature-Studie berechnet, dass SARS einen k-Wert von 0,16 aufwies. Neuen Berechungen zufolge betrug dieser Wert bei MERS 0,25. Bei der spanischen Grippe von 1918 spielten Superspreader-Ereignisse wohl keine größere Rolle: Hier ermittelten die Forscher einen Wert von 1. Der Erreger verbreitete sich also auch ohne Superspreader gut.
Für SARS-CoV-2 wird der Wert als etwas höher als für SARS und MERS angenommen. „Ich denke, es ist nicht ganz so wie bei SARS oder MERS, wo wir viele große Superspreader-Cluster beobachten konnten“, erklärt Gabriel Leung von der University of Hongkong. „Aber wir sehen viele konzentrierte Cluster, in denen sehr wenige Menschen für eine hohe Anzahl an Infektionen verantwortlich sind.“
In einer anderen Veröffentlichung gehen Forscher von einem k-Wert von 0,1 aus. Dieser niedrige Wert könnte erklären, warum sich das Virus nicht schon vor dem großen Ausbruch in China weltweit ausgebreitet hat, meint Adam Kucharski, Hauptautor dieser Studie. Immerhin wurde zum Beispiel kürzlich bekannt, dass es in Frankreich bereits im Dezember einen ersten Corona-Fall gab – dort wurden vor kurzem ältere Proben auf eine Infektion mit SARS-CoV-2 getestet.
Doch dieser Fall hatte offenbar nicht zu einer explosionsartigen Ausbreitung des Virus geführt. Kucharski vermutet, dass viele der Infektionsketten bei einem k-Wert von 0,1 einfach von selbst abreißen. Um sich in einem Land zu etablieren, muss der Erreger daher mehrfach unentdeckt eingeschleppt worden sein. Kurchaski vergleicht es so: „Wenn die chinesische Epidemie das Feuer war, das viele Funken in der Welt verteilt hat, dann sind die meisten Funken einfach erloschen.“
Wann und wo es letztlich zu einem Superspreader Event kommt, ist von vielen Faktoren abhängig. Zum Beispiel sind einige Personen besonders infektiös, weil sie eine höhere Viruslast aufweisen und damit, im Vergleich zu anderen Infizierten, auch mehr Viren ausscheiden. Doch auch die Rahmenbedingungen müssen passen, damit ein Infizierter zum Superspreader wird. Er muss sich für längere Zeit unter vielen anderen Menschen aufhalten, vorzugsweise in geschlossenen Räumen.
Hinzu kommt das richtige Timing, denn SARS-CoV-2-Infizierte sind zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders ansteckend. Auffällig ist laut der Forscher, dass viele der beobachteten Cluster bei Veranstaltungen auftraten, bei denen die Menschen sangen oder laut sprachen, wie Messen oder Chortreffen. Das könnte die Theorie der aerogenen Infektion stützen. Die gute Nachricht: Superspreader-Ereignisse dieser Art lassen sich durch soziale Distanzierungsmaßnahmen gut eindämmen.
Bildquelle: Amy Shamblen, unsplash