Knapp 4 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche werden aus medizinischer Indikation vorgenommen. Was Gynäkologen wissen sollten und ein persönliches Beispiel aus meiner Praxis.
Kaum ein Thema in der gynäkologischen Praxis ist so konfliktbeladen wie der Schwangerschaftsabbruch. Patientinnen, die sich nicht über ihre Schwangerschaft freuen können, befinden sich in einem Spannungsfeld, das sie selbst, aber auch ihr gesamtes Umfeld in eine Krise stürzen kann. Für Gynäkologen ist es zunächst wichtig, den rechtlichen Rahmen zu kennen.
Das statistische Bundesamt in Wiesbaden vermeldet für 2019 insgesamt 100.893 Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland, eine nahezu unveränderte Zahl im Vergleich zum Vorjahr.
Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland nach § 218 StGB strafbar. Es gelten Ausnahmeregelungen, die Straffreiheit gewähren, aber immer noch den Tatbestand der Rechtswidrigkeit darstellen. Dazu gehört ein Abbruch im Rahmen der sogenannten Beratungsregelung. Dieser kann bis zur vollendeten 12. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden. Eine Schwangerschaftskonfliktberatung und eine anschließende dreitägige Bedenkzeit sind obligat. Nach dieser Regelung wurden im vergangenen Jahr 97.001 Abbrüche vorgenommen, was einen Anteil von nahezu 96 % aller Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ausmacht.
Straffrei und rechtmäßig ist ein Abbruch in Deutschland dann, wenn er aus kriminologischer Indikation, etwa nach einer Vergewaltigung, stattfindet. Auch hier gilt die Frist von zwölf Wochen, eine Beratung ist nicht erforderlich. Der zahlenmäßige Anteil betrug im vergangenen Jahr 17 Fälle (unter 1 %).
Ebenfalls straffrei und rechtmäßig ist ein Abbruch aus medizinischer Indikation. Voraussetzung ist, dass eine Gefahr für das Leben der Mutter besteht, beziehungsweise eine schwerwiegende Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren droht, die nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. Hierunter fallen insbesondere auch kindliche Beeinträchtigungen wie Trisomie 21.
Es gibt keine zeitliche Frist, Spätabbrüche nach der 22. Schwangerschaftswoche bedürfen aber immer einer medizinischen Indikation. Die Schwangere muss über medizinische und psychische Aspekte ärztlich beraten werden und ihr wird eine psychosoziale Beratungsstelle vermittelt, sofern sie das wünscht. Zwischen Diagnose und Abbruch müssen mindestens drei Tage liegen, es sei denn es besteht eine unmittelbare Gefahr für das Leben der Mutter. Aus medizinischer Indikation wurden im vergangenen Jahr 3.875 Schwangerschaften abgebrochen, das entsprach knapp 4 % aller Abbrüche. Darunter waren 648 Spätabbrüche nach der 22. Schwangerschaftswoche.
Die medizinischen Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch umfasst Syndrome, Behinderungen und Erkrankungen des Ungeborenen. Also alles, was den Gesundheitszustand des Kindes oder aber auch der Mutter beeinträchtigt, es können auch beide betroffen sein. Hier geht es um gesundheitliche Einschränkungen, deren Mitnahme in das eigene Leben eine zu große Herausforderung für Mutter und Familie darstellen würde. Es können auch Konstellationen vorliegen, bei denen ein Überleben des Kindes außerhalb des Mutterleibes nicht oder oft nur kurz möglich ist, wie etwa eine Anenzephalie, eine Trisomie 13 oder Trisomie 18.
In selteneren Fällen gefährdet ein weiteres Andauern der Schwangerschaft das Leben der Mutter. Das ist beispielsweise bei einer schweren frühen Präeklampsie gegeben oder bei einer ausgeprägten mütterlichen Kardiomyopathie mit noch nicht lebensfähigem Kind. Hier handelt es sich um medizinische Grenzsituationen, in denen ein hoch professionelles, interdisziplinäres Zusammenarbeiten aus Internisten, Pädiatern, Pränatalmedizinern und Geburtshelfern erforderlich ist. Für diese Fälle gibt es in der Literatur keine validen Zahlen, man geht von einem anteilsmäßig sehr kleinen Patientenkollektiv aus.
Durch eine mittlerweile sehr weit entwickelte Pränataldiagnostik lassen sich Abbrüche jenseits der 22. Schwangerschaftswoche weitgehend verhindern. Doch die Entscheidung für oder gegen einen Abbruch wird unter Umständen hinausgezögert – zum Beispiel durch die Suche nach einer möglichst exakten Diagnose, das Einholen erforderlicher Zweitmeinungen, Verlaufsbeobachtungen und erschwerte Prognoseeinschätzungen.
Vor der Geburtseinleitung wird dann in der Regel ein sogenannter Fetozid durchgeführt. Dabei wird unter Ultraschall hauptsächlich Kaliumchlorid oder Lidocain in die Nabelvene oder das kindliche Herz injiziert und damit eine fetale Asystolie ausgelöst. Damit wird verhindert, dass ein zunächst vitaler Fetus geboren wird. Die anschließende Geburtseinleitung wird meist medikamentös mit einem Prostaglandin durchgeführt. Wichtig ist eine ausreichende Analgesie.
Eine Obduktion des Kindes ist empfehlenswert, um eine genaue Ursachenforschung und Beratung für nachfolgende Schwangerschaften zu ermöglichen. Oftmals wird die Trauerbewältigung durch eine professionelle Begleitung erleichtert. Eine Folgeschwangerschaft wird frühestens nach 6 Monaten empfohlen, da es in einer groß angelegten finnischen Studie bei einer früheren Konzeption zu erhöhten Frühgeburtsraten kam.
Besonders belastend ist es, wenn man eine kindliche Anomalie feststellt, dies der Schwangeren mitteilen muss und zusätzlich persönlich befreundet ist. Genau das habe ich vor einigen Jahren in der Praxis erlebt. Mir fiel im Ersttrimester-Ultraschall auf, dass der Embryo sich kaum bewegte, die Körperproportionen nicht zueinander passten und am Kopf eine Enzephalozele vorlag.
Bei der anschließenden speziellen Ultraschalluntersuchung durch einen Pränatalmediziner (Degum III) wurde ein Meckel-Gruber-Syndrom diagnostiziert. Dabei handelt es sich um einen seltenen, autosomal-rezessiven Gendefekt mit zahlreichen Fehlbildungen wie Enzephalozele und Zystennieren, die zu einem raschen postnatalen Versterben des Kindes führen. Aus diesem Grund wird meist kurz nach Diagnosestellung ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt.
Das befreundete Elternpaar entschied sich jedoch zunächst für ein abwartendes Verhalten. Während der nächsten Wochen nahm der Bauchumfang des Kindes aufgrund großer Nierenzysten extrem zu, sodass die Mutter zunehmend Beschwerden entwickelte. Außerdem wäre bei weiterem Zuwarten eine Spontangeburt eventuell nicht mehr möglich gewesen. Nun wurde eine Geburtseinleitung aus medizinischer Indikation, in diesem Fall Kind und Mutter betreffend, vorgenommen.
Die Eltern wünschten keinen vorausgehenden Fetozid. Ich konnte die Geburt im Kreißsaal mitbegleiten, wir hielten den kleinen Jungen postpartal abwechselnd im Arm. Nach etwa 30 Minuten schlief er ruhig ein und verstarb. Für die Eltern war es wichtig, ihr Kind so lange wie möglich bei sich zu haben und sich bewusst von ihm zu verabschieden. Der Kleine wog weit über 500 g, es fand eine Beisetzung statt, was wiederum den Eltern im Trauerprozess half.
In schwierigen Situationen gibt es oft nicht den einen Weg. Für ein Elternpaar ist bei einer medizinischen Indikation, besonders bei fehlender postpartaler Lebensfähigkeit des Kindes, ein möglichst schnelles Vorgehen wichtig. Bei dem geschilderten Fall wäre genau das nicht der richtige Weg gewesen, da die Betroffenen die Zeit und die Ruhe brauchten, um die Situation einzuordnen und bewusst Abschied von ihrem Kind zu nehmen. Ich finde es wichtig, hier, soweit medizinisch verantwortbar, individuell vorzugehen. Bei der medizinischen Indikation steht die ausführliche Beratung besonders im Vordergrund.
Ein Schwangerschaftsabbruch bei einer kindlichen Beeinträchtigung, wie etwa Trisomie 21, stellt ein schwieriges ethisches Problem dar. Dies sind sehr persönliche Entscheidungen, die man niemandem abnehmen kann. Wichtig ist, dass gemeinsam Wege gefunden werden, mit denen das Elternpaar auch in Zukunft gut leben kann.
Unsere Aufgabe ist es, dabei individuell zu unterstützen.
Was bei den Abtreibungsdebatten nachdenklich stimmt, ist die oft sehr emotionale Argumentation auf Basis von sehr kleinen Fallzahlen.
Häufig wird als erstes starkes Argument der Schwangerschaftsabbruch nach Vergewaltigung angeführt. Die hohe psychische Belastung durch eine Vergewaltigung darf in keinerlei Hinsicht in Frage gestellt werden. Entsteht daraus eine Schwangerschaft, befindet sich die betroffene Frau im maximalen Ausnahmezustand. Sicher eine äußerst schwierige, aber extrem seltene Situation. In Deutschland waren im vergangenen Jahr 17 Frauen betroffen, was – ohne Wenn und Aber – trotzdem bedauerliche 17 Fälle zu viel sind.
Ein weiteres Argument, das in den Debatten oft genannt wird, ist die selten lebensbedrohliche Gefährdung der Mutter durch eine Fortführung der Schwangerschaft. Auch hier handelt es sich zum Glück um eine sehr geringe Anzahl von Fällen, in denen die Entscheidung für das mütterliche Leben im Vordergrund steht. Diese Fälle werden zusammen mit den kindlichen Beeinträchtigungen der medizinischen Indikation zugerechnet, die insgesamt knapp unter 4 % liegt.
In den Diskussionen um Abtreibung sollte nicht vergessen werden, dass es sich in den allermeisten Fällen, nämlich in 96 % aller Abbrüche, um Situationen handelt, die unter die Beratungsregelung fallen. Dabei geht es vielfach um Konstellationen, die durch engagierte Antikonzeptionsberatung, günstige Bereitstellung von Kontrazeptiva und deren verantwortungsvolle Anwendung verhindert werden könnten. Um möglichst viele Schwangerschaftskonflikte zu vermeiden: Helfen wir als Gynäkologen also mit, wo immer es uns möglich ist!
Bildquelle: Jean-Philippe Delberghe, Unsplash