Für die Beurteilung der Infektionslage hinsichtlich SARS-CoV-2 spielt der R-Wert eine große Rolle. Doch er allein ist nicht genug.
Das Robert Koch-Institut (RKI) veröffentlicht regelmäßig einen aktuellen Bericht zur COVID-19-Pandemie. Neben der Zahl an Neuinfizierten und Toten wird auch der R-Wert genannt. Diese Zahl wird von Virologen und Politikern inzwischen zur Einschätzung der Infektionslage herangezogen. Welche Stärken, aber auch Schwächen hat R? Und welche Größen sind noch erforderlich, um die Pandemie besser zu beschreiben?
Die sogenannte Reproduktionszahl beschreibt, wie viele Personen sich im Mittel bei einem infizierten Patienten anstecken.
Zu Beginn der Pandemie wird oft R0, die Basisreproduktionszahl, genannt. Denn zu dem Zeitpunkt können alle Menschen erkranken. Es gibt weder Impfstoffe noch eine Immunität oder sonstige Maßnahmen, um Menschen zu schützen. Dieser R0-Wert liegt für SARS-CoV-2 zwischen 2,4 und 3,3. Das heißt jeder Infizierte steckt im Mittel zwei bis drei Personen an. Ohne Eingriffe würde die Zahl an Neuinfektionen rasch ansteigen. Ziel von Ausgangsbeschränkungen oder Quarantäne-Maßnahmen ist es, genau das zu verhindern.
Der R-Wert bildet dabei aber nicht die momentane Situation ab, sondern bezieht sich aus methodischen Gründen auf Infektionen, die schon länger zurückliegen:
Um den R-Wert zu berechnen, braucht man Fallzahlen. Labors bzw. Arztpraxen berichten an das zuständige Gesundheitsamt. Von dort wird die Information an das RKI übermittet, teils mit Meldeverzug. Der Zeitpunkt, zu dem sich die Neuerkrankten infiziert haben, liegt außerdem etwa 4 bis 6 Tage zurück, das heißt, die Ansteckungen fanden vor 8 bis 13 Tagen statt. Der heutige R-Wert bildet also das Infektionsgeschehen vor etwa einer bis zwei Wochen ab.
Um den R-Wert besser schätzen zu können, greift das RKI auf das sogenannte Nowcasting zurück. „Nowcasting ist eine Schätzmethode, um die Realität besser abzubilden“, erklärt RKI-Präsident Prof. Dr. Lothar H. Wieler bei einer Pressekonferenz. Es handele sich um ein „wissenschaftlich anerkanntes Verfahren“, das den bekannten Meldeverzug berücksichtige. „Aus diesen Schätzungen berechnen wir unter anderem den R-Wert.“ Das Nowcasting selbst endet immer vier Tage vor dem Veröffentlichungsdatum, da noch keine zuverlässige Aussage zur Anzahl der Neuerkrankungen der letzten drei Tage möglich ist. Als Inkubationszeit wird bei SARS-CoV-2 mit fünf Tagen gearbeitet.
Seit dem 14. Mai nennt das RKI neben dem zeitlich schwankenden R-Wert selbst einen Sieben-Tages-R-Wert, um mittelfristige Trends besser abzubilden. Mit dem Datensatz vom 25.05.20 liegt dieser Wert bei 0,84.
Anfang März wurden R-Werte zwischen 3,0 und 3,5 erreicht, was sowohl bei Ärzten als auch bei Politikern Anlass zur Sorge gab. Das Gesundheitssystem wäre rasch überfordert gewesen, hätte dieser Trend angehalten. Dazu eine kurze Chronologie:
„Man kann sehen, dass die Maßnahmen im Großen und Ganzen gewirkt haben, die Reproduktionszahl hat sich gesenkt“, sagt der Epidemiologe Dr. Sebastian Funk. Er forscht an der London School of Hygiene & Tropical Medicine. Auch eine aktuelle Studie kommt zu diesem Ergebnis (wir berichteten). Gleichzeitig warnt Funk vor punktuellen Interpretationen einzelner Regelungen des Gesamtpakets: Deren Auswirkung sehe man nur über längere Zeiträume.
Vier-Tage-Reproduktionszahl anhand von RKI-Daten (obere Grenze, unter Grenze, Punkteschätzer dazwischen).
„R sagt etwas über die Dynamik aus; das ist ein wichtiger Faktor“, so Wieler. Es handele sich aber um Durchschnittswerte: „Wie wir immer wieder feststellen, gibt es regional große Unterschiede.“ Der RKI-Präsident ergänzt: „R kann nur gemeinsam mit anderen Zahlen betrachtet werden.“ Wichtig sei immer die Zahl der Fälle pro Tag. Ein theoretisches Beispiel: Selbst bei R = 1 würden 50.000 Neuinfektionen Tag für Tag zum Desaster führen.
Nur bei wenigen Fällen gelingt es Gesundheitsämtern – wie beim Beginn des Krankheitsgeschehens in Bayern gesehen – Kontaktpersonen zu identifizieren und in Quarantäne zu nehmen. „Man darf R als Zahl nicht aus dem Kontext nehmen“, warnt der RKI-Präsident.
Die Bundesregierung zieht für ihre Planungen sowohl Fallzahlen als auch R-Werte heran. Daraus hat sich ihre umstrittene Regelung entwickelt, eine Obergrenze anzugeben. Die Anzahl Neuinfizierter darf innerhalb von sieben Tagen 50 pro 100.000 Einwohner nicht überschreiten. Ansonsten wären die Lockerungen hinfällig, wobei Landkreise selbst über Maßnahmen entscheiden.
Kritik kommt vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland (ZI). „Die Fixierung auf eine täglich aktualisierte Reproduktionszahl R greift beim aktuellen Pandemieverlauf zu kurz“, so Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried. „Auch die einheitlich fixierte Interventionsgrenze der Bund-Länder-Konferenz berücksichtigt nicht, wie stark die regionalen Kapazitäten der medizinischen Versorgung bei ansteigenden Fallzahlen beansprucht werden könnten.“
Deshalb hat das ZI ein neues Modell entwickelt. Es berücksichtigt Ressourcen im Gesundheitswesen. Genau diese unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. Das mathematische Modell funktioniert so: ZI-Experten definieren eine sogenannte Belastungsgrenze anhand mehrerer Parameter:
Stehen beispielsweise 32.828 Intensivbetten an einem bestimmten Tag zur Verfügung, ergibt sich nach dem Modell eine Belastungsgrenze von 16.414 täglichen Neuinfektionen bundesweit. Dieser Wert schwankt von Bundesland zu Bundesland.
Gleichzeitig definiert das ZI eine Interventionsgrenze, also eine Obergrenze, ab der Länder Maßnahmen ergreifen sollten. Diese liegt aufgrund theoretischer Überlegungen bei 36 Prozent der Belastungsgrenze.
Auch die Belastungsgrenze ist folglich je nach Region verschieden. Und jeder neue Lockdown hat eine Vorlaufzeit von mehreren Tagen. Laut ZI blieben manchen Bundesländern zwei bis drei Wochen, anderen nur ein bis drei Tage, bis Lockdown-Maßnahmen greifen müssten.
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