Schon lange streiten Experten darüber, ob Adipositas als chronische Erkrankung anerkannt werden sollte. Traut sich keiner, Stellung zu beziehen?
„Das ist doch keine Krankheit, die essen einfach nur zu viel!“ Diese Meinung höre ich häufig, wenn die Sprache auf Adipositas kommt. Dass diese Aussage viel zu kurz greift, um das Leiden der vielen Millionen adipösen Deutschen zu erklären, liegt auf der Hand. Doch selbst Experten tun sich bis heute schwer, Adipositas als chronische Erkrankung anzuerkennen.
Die Weltgesundheitsorganisation sieht Adipositas schon seit dem Jahre 2000 als chronische Krankheit. Auch im Diagnosesystem ICD-10 findet sie sich. Doch obwohl das Bundessozialgericht 2003 in einem Urteil vom „Vorliegen einer Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne“ sprach und das Europäische Parlament in einer Resolution von 2006 die Mitgliedsstaaten aufgefordert hat, Fettleibigkeit offiziell als chronische Krankheit anzuerkennen, wird Adipositas im deutschen Gesundheitssystem häufig noch nicht als chronische Krankheit behandelt.
Die Uneinigkeit der deutschen Experten zeigt sich auch in der immer noch gültigen Leitlinie zur „Prävention und Therapie der Adipositas“ von 2014: Während die in der Entwicklung der Leitlinie federführende Deutsche Adipositas-Gesellschaft für eine Anerkennung als chronische Krankheit plädiert, fügen die Co-Autoren der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin ein Sonderkommentar hinzu, in dem sie Adipositas nicht „automatisch“ als Krankheit sehen, sondern nur im Kontext der Begleiterkrankungen, des Alters und anderer Faktoren als „pathologischen Zustand“. Das Thema ist so kontrovers, dass sogar ein angesehener Experte, den ich für diesen Artikel interviewen wollte, keine Stellungnahme dazu abgeben wollte.
Diese Uneinigkeit unter Experten führt dazu, dass auch die Krankenkassen trotz des Urteils des Bundessozialgerichts individuell ganz unterschiedlich verfahren. Mal werden sinnvolle Therapieprogramme oder Magenverkleinerungen bezahlt, ein anderes Mal nicht. Die Patienten sind auf den guten Willen ihrer Krankenkassen angewiesen. Zu gesteigerter Motivation, ihre Gesundheitsprobleme anzugehen, führt dies gewiss nicht.
Dass Adipositas das Resultat unterschiedlichster Faktoren, von familiärer Disposition über einen ungesunden Lebensstil bis hin zu Begleiterkrankungen oder Nebenwirkungen von Arzneimitteln ist, da ist sich die weltweite Forschung in den letzten Jahren zunehmend sicher. Die komplexen pathophysiologischen Mechanismen, die die Fettleibigkeit aufrechterhalten und einen Teufelskreislauf in Gang setzen, werden immer besser verstanden. Doch zu groß ist die Sorge, dass sich durch eine einfache Anerkennung als Krankheit Adipöse auf ihrem Status als chronische Patienten „ausruhen“ könnten und nicht mehr selbst an der Lösung ihrer Gesundheitsprobleme arbeiten. Und für die Krankenkassen geht es sicher auch um den immensen Kostenberg, der kaum bewältigbar scheint, wenn alle adipösen Menschen in Deutschland intensive Therapie erhalten würden. Ob dabei aber die immensen Langzeitfolgekosten der Adipositas-Epidemie sinnvoll in die Beurteilung der Kostenfrage miteinbezogen werden, bleibt fraglich.
Wissenschaftler der Obesity Society, der weltweit führenden Fachgesellschaft zur Erforschung, Behandlung und Prävention von Adipositas, schlagen in der März-Ausgabe der Fachzeitschrift Obesity nun eine Lösung für diese verfahrene Situation vor. Ein neues Klassifikationssystem könnte helfen, Fettleibigkeit besser einzuordnen und Erkrankten den Zugang zu Therapien zu erleichtern.
Bislang wird die Diagnose Adipositas allein anhand eines BMIs über 30 kg/m² gestellt. Diese pauschale Definition greift viel zu kurz, da sie weder Statur und individuelles Verhältnis von Fett- und Muskelgewebe noch mögliche Begleiterkrankungen berücksichtigt. Auch die noch gültige ICD-10-Kodierung von Adipositas „due to excess calories“ ist eindimensional und bildet die multifaktorielle Genese der Erkrankung in keiner Hinsicht ab.
Schon 2017 haben daher Vertreter der American Association of Clinical Endocrinologists den neuen diagnostischen Terminus der „Adiposity-Based Chronic Disease“ (ABCD) vorgestellt, der in dem aktuellen Review der Obesity Society wiederaufgegriffen wird. Das Akronym ABCD steht dabei praktischerweise nicht nur für die neue Krankheitsbezeichnung, sondern auch für ihre Diagnosekriterien: A berücksichtigt die Pathophysiologie hinter der Adipositas-bezogenen chronischen Erkrankung, B die BMI-Klassifikation, C beschreibt die „Complications“ und D ordnet die Schwere („Degree“) der Komplikationen ein. Mit dem neuen Klassifikationssystem lässt sich die individuelle Pathogenese der Erkrankung deutlich besser einordnen und die Begleiterkrankungen berücksichtigen. Es ermöglicht dem Behandler eine spezifische Therapiestrategie mit individuellen Zielen festzulegen und bewahrt die Patienten vor dem Stigma, das dem Begriff „Adipositas“ inzwischen anhaftet.
Tatsächlich liegt in dem neuen Klassifikationssystem eine immense Chance für die Bewältigung der weltweiten Adipositas-Epidemie. Durch das neue System würde es möglich, die Patienten wirklich gezielt zu therapieren. Und nicht Gießkannenartig Geld zur Bekämpfung der Fettleibigkeit auszuschütten und damit die Krankenkassen zu überfordern. Ein abgestuftes, aber einheitliches Vorgehen von Ernährungsberatung über interdisziplinäre Schulungsprogramme bis hin zu Operationen und medikamentösen Hilfestellungen zur Gewichtsabnahme ließe sich auf dessen Grundlage vereinbaren.
Sowohl die American Association of Clinical Endocrinologists als auch die European Association for the Study of Obesity haben die Aufnahme des ABCD-Systems in das ICD-Kodierungssystem gefordert. Doch in naher Zukunft wird sich hier wohl nicht viel ändern: In den Vorgaben zum neuen ICD-11, der 2022 in Kraft treten wird, hat sich wenig geändert. Immerhin: Adipositas wird nicht mehr nur auf exzessive Kalorienzufuhr zurückgeführt, sondern auf verschiedene Ursachen, wie unausgewogener Energiehaushalt, Medikamente oder genetische Störungen. Die Chance, das Krankheitsbild genauer zu klassifizieren, wurde hingegen vertan.
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