Natürlich sind alle Menschen gleichwertig. Bei der Anamnese muss ich aber manchmal doch unterscheiden. Ein Beispiel: Der deutsche Asiate mit vermeintlichem Reizdarm hat vielleicht nur eine Laktoseintoleranz.
Nachdem lange Zeit Corona mein Denken massiv beherrscht hat, drängt sich in den letzten Tagen ein anderes Thema nach vorne: Rassismus. Inzwischen haben wir sicher alle die Bilder aus den USA gesehen.
Gerade dieser Konflikt berührt mich persönlich sehr, weil ich, Mitte der 90er Jahre, ein Jahr als Austauschschülerin in den USA verbracht und dort viele tolle Menschen kennengelernt habe. Aber auch, weil ich mich als Hausärztin inzwischen manchmal unsicher fühle, wie ich mit manchen Situationen umgehen soll.
Ich glaube, dass alle Menschen gleichwertig sind. Andererseits tendiert die moderne Medizin ja immer weiter zur Differenzierung, was Risikofaktoren oder die Verteilung bestimmter Erkrankungen angeht. Damit man jedem einzelnen Patienten wirklich gerecht wird und nicht zuviele über einen Kamm schert.
Ein paar Beispiele: Eine Laktoseintoleranz betrifft beispielsweise in der nordeuropäischen Bevölkerung eher die Minderheit (ca. 10 %), in Südeuropa geht man schon von etwa zwei Dritteln aus, in Asien von über 90 %. Wenn also ein Patient über chronische Bauchschmerzen klagt, muss ich das berücksichtigen – denn wer in Deutschland aufgewachsen ist, wird vielleicht auch die (eher milch-/laktoselastige) deutsche Ernährung übernommen haben, die er aber genetisch nicht gut vertragen kann. Dann kann eine simple Ernährungsumstellung viel Leid ersparen.
Ich erinnere mich an einen Patienten, dessen Eltern weit vor seiner Geburt aus dem Mittelmeerraum zugezogen waren. Er lief seit Jahren mit der Diagnose „Reizdarm“ herum, die sich bei näherem Hinsehen aber als Laktoseintoleranz entpuppte. Unter laktosefreier Ernährung war der Patient beschwerdefrei.
Erkrankungen wie Sichelzellanämie sind in Äquatorialafrika und -asien häufig, in Deutschland sehr selten – und extrem relevant für die Verschreibung von Medikamenten, da einige einen Schub auslösen können.
Auch bei der COVID-Pandemie gibt es in Ländern wie Großbritannien oder den USA massive Unterschiede zwischen der weißen und nicht-weißen Bevölkerung, was die Sterblichkeit angeht. Ist das ausschließlich ein Problem des Geldes und des sozioökonomischen Status? Oder gibt es auch dort Risikokonstellationen, die wir nicht kennen, weshalb wir eventuell auch diejenigen, die mehr Schutz brauchen, nicht ausreichend schützen?
Wie es nicht laufen sollte, habe ich in meiner ersten Klinik erlebt: Ein Patient wurde mit „Fieber unklarer Genese“ nach über 24 h in der Notaufnahme zu mir auf Station verlegt. Die Standard-Infekt-Diagnostiken (Röntgen-Thorax, Urinstatus, Sono Abdomen etc.) waren gemacht, jetzt ging es um die weitere Fokussuche. Was aber leider versäumt worden war (vielleicht, um dem dunkelhäutigen Patienten nicht zu nahe zu treten), war die Reise-Anamnese.
Auf die Frage „Waren Sie in den letzten 6 Monaten im außereuropäischen Ausland?“ gab der Patient an, vor kurzem eine Afrika-Reise gemacht zu haben, leider ohne Malariaprophylaxe. Nach einer kurzen Blutuntersuchung war dann auch die Diagnose klar: Malaria tropica. Nach Beginn der Medikation ging es dem Patienten rasch besser und er konnte nach Hause gehen.
Er schien die Frage (soweit ich das beurteilen kann) völlig in Ordnung zu finden, auch wenn einige vielleicht sagen würden, es sei rassistisch, bei einem dunkelhäutigen Patienten mit Fieber als Erstes nach Malaria zu fragen. Er hat sich vor allem gefreut, dass ihm endlich geholfen wurde und er schnell aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte.
Deswegen jetzt meine Frage vor allem an diejenigen, die selbst oft mit Rassismus zu tun haben, weil sie eine andere Hautfarbe haben oder einer Minderheit angehören:
Wie kann man dieses Problem lösen? Wie gibt man einem Patienten nicht das Gefühl, anders zu sein, wenn man aber gleichzeitig medizinisch dann doch anders denken muss, um dem Patienten auch gerecht zu werden? Ich will zuhören und lernen.
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