In Deutschland kommt aktuellen Statistiken zufolge fast jedes dritte Kind per Kaiserschnitt zur Welt. Dabei variiert die Sectiorate mit dem Wohnort der Mutter teilweise erheblich. Auch der große Ermessensspielraum der Ärzte scheint die Häufigkeit von Kaiserschnitten zu beeinflussen.
Laut den neuesten Angaben des Statistischen Bundesamtes kamen 2014 in Deutschland 31,8 % der Babys per Kaiserschnitt zur Welt. Auch wenn sich die Sectiorate damit im Vergleich zum Vorjahr nicht geändert hat, ist sie weiterhin ein Beleg für den steigenden Trend zu dieser Entbindungsart in den vergangenen Jahrzehnten. So lag die Rate der Schnittentbindungen im Jahr 2000 noch etwa zehn Prozentpunkte niedriger, insgesamt hat sie sich seit 1991 sogar verdoppelt. Bemerkenswert sind dabei auch die großen regionalen Unterschiede: Während im Bundesland Sachsen nicht mal jedes vierte Baby per Kaiserschnitt entbunden wird, ist es im Saarland fast jedes zweite. Offenbar steigt die Akzeptanz gegenüber der Operation, sowohl auf Patienten- als auch auf Arzt-Seite. Gleichzeitig ist der Entscheidungsspielraum, wann Geburtshelfer den kaiserlichen Schnitt für gerechtfertigt halten, sehr weit gefasst. Doch auch wenn Kaiserschnitte inzwischen als risikoarm gelten, gehen verschiedene kindliche und maternale Morbiditäten mit diesem Geburtsmodus einher. Organisationen wie die WHO beobachten den Trend zur Schnittentbindung daher mit Sorge. Auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) sieht offenbar einen Bedarf dafür, die Indikation zum Kaiserschnitt zu konkretisieren und meldete im Mai dieses Jahres eine Leitlinie zur Sectio caesarea an.
Ganz ohne Zweifel ist die Schnittentbindung unverzichtbar, wenn die kindliche und/oder mütterliche Gesundheit – im Extremfall auch das Leben – auf dem Spiel stehen. Zu den medizinisch zwingenden Gründen für einen primären Kaiserschnitt zählen zum Beispiel:
Daneben machen auch häufig Komplikationen, die sich erst unter der Geburt entwickeln, etwa eine drohende Sauerstoffunterversorgung, einen sekundären Kaiserschnitt notwendig. Insgesamt betreffen solch dringende Indikationen jedoch nur etwa 10 % der durchgeführten Kaiserschnitte, während sich 90 % auf sogenannte relative Indikationen begründen – Situationen also, die Ärzten, Hebammen und nicht zuletzt der Schwangeren einen gewissen Entscheidungsspielraum überlassen. Die dabei am häufigsten aufgeführten Gründe, wie vorausgegangene Sectiones, ein pathologisches CTG, protrahierte Geburten, Geburtsstillstand, Erschöpfung der Mutter oder fetale Makrosomie, lassen erahnen, wie schwierig es ist, klare Entscheidungsgrenzen zu ziehen.
Nicht zuletzt spielen in der anschwellenden Statistik auch die sogenannten Wunschkaiserschnitte eine zunehmend wichtige Rolle. Über die Häufigkeit des medizinisch kaum bis gar nicht indizierten Kaiserschnitts lässt sich keine sichere Aussage treffen. Die wahren Zahlen bleiben hinter den Statistiken zu primären und sekundären Sectiones verborgen – Wunschkaiserschnitte werden nicht gesondert erfasst. Zu den Gründen für die Geburt nach Wunsch zählt unter anderem die Hoffnung der Patientinnen auf weniger Schmerzen im Vergleich zur vaginalen Geburt. Aber auch Befürchtungen, sexuelle Beeinträchtigungen, Dammverletzungen oder Beckenbodenschäden durch eine natürliche Geburt zu erleiden, treiben die Zahl der Wunschkaiserschnitte nach oben. Zudem betrachten viele Eltern die Planbarkeit einer solchen Wunschgeburt als Pro für den Kaiserschnitt – und sind damit nicht allein. Auch für Geburtskliniken sind geplante Entbindungs-OPs bei knapper Personalstruktur mitunter attraktiver als zeitlich kaum kalkulierbare natürliche Geburten. Dies spiegelt sich sogar in den Sichtweisen der Fachgesellschaften wider: Die DGGG ordnet den Mangel an Personalressourcen und Klinikorganisation beispielsweise als relative Kaiserschnittindikation ein. Dass diese Handhabe durchaus an der Tagesordnung ist, unterstreichen die vergleichsweise höheren Kaiserschnittraten in Kliniken mit Belegfachabteilungen.
Dass Schnittentbindungen heutzutage offenbar als eine elektive Entbindungsart angesehen werden, ist sicher auch ein Verdienst der mit den Jahren stetig gesunkenen mütterlichen und kindlichen Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken. Hinsichtlich der kurzfristigen negativen Auswirkungen auf die kindliche Gesundheit gelten die natürliche Geburt und der Kaiserschnitt unterm Strich als vergleichbar. Neuere Studien weisen jedoch darauf hin, dass Kaiserschnitte möglicherweise auch langfristige gesundheitliche Nachteile mit sich bringen. Diskutiert wird etwa darüber, ob per Kaiserschnitt geborene Kinder im späteren Leben ein höheres Risiko für Asthma bronchiale, allergische Rhinitis oder Diabetes Typ 1 aufweisen. Allerdings ist die bisherige Datenlage noch unzureichend, um kausale Zusammenhänge nachzuweisen. Unbestritten ist hingegen das höhere Risiko respiratorischer Komplikationen von Kaiserschnittkindern, allen voran das Respiratory distress syndrome (RDS) oder eine transitorische Tachypnoe des Neugeborenen (TTN). Nicht wegzudiskutieren sind auch die bekannten – inzwischen scheinbar wenig beachteten – maternalen Risiken, sei es in Form von intraoperativen Komplikationen oder postoperativen Gefahren, wie z. B. Blutungen und Thromboembolien. Auch die durch den Kaiserschnitt steigenden Risiken für Folgeschwangerschaften, wie zum Beispiel Plazentationsstörungen oder eine Uterusruptur, scheinen bei der oft großzügig gefällten Entscheidung zur Schnittentbindung zu wenig Gewicht zu haben.
Vor nunmehr 30 Jahren forderte die WHO bereits eine „Idealrate“ für Kaiserschnitte von 10 bis 15 %, da sich hierfür der größte gesundheitliche Nutzen bezüglich Morbidität und Mortalität herausstellte. Oberhalb dieser – in Deutschland längst überschrittenen – Grenzen sah die Organisation hingegen keinen Nachweis für eine Verbesserung dieser Parameter. „Diese Ergebnisse unterstreichen den Wert der Sectio caesarea als lebensrettende Maßnahme für Mutter und Kind“, sagt Dr. Marleen Temmerman, Leiterin des WHO Department of Reproductive Health and Research. „Sie zeigen aber auch, wie wichtig es ist, dass Kaiserschnitte vor allem den Frauen vorbehalten bleiben sollten, die sie wirklich benötigen und sich nicht auf irgendeine bestimmte Rate zu fixieren.“ Um die Hintergründe des weltweit steigenden Trends aufzudecken und Sectioraten international vergleichbar zu machen, möchte die WHO zumindest vorläufig die sogenannte Robson-Klassifikation nutzen. Dabei erfolgt eine Zuordnung der Schwangeren in eine von zehn Robson-Gruppen anhand simpler Kriterien, wie Parität, Gestationsalter, stattgehabte Sectio oder Kindslage. „Um den Einsatz von Kaiserschnitten zu optimieren und die Qualität der gesundheitlichen Versorgung zu bewerten und zu verbessern, ist es zwingend notwendig, Informationen in standardisierter, einheitlicher und reproduzierbarer Weise zu sammeln“, erklärt Dr. Temmerman. „Wir fordern Gesundheitssysteme und Entscheidungsträger dringend dazu auf, dies zu bedenken und so schnell wie möglich in die Tat umzusetzen.“
In Europa gibt es bereits erfolgreiche Beispiele für Gegenmaßnahmen: In Portugal [Paywall] – das im europäischen Vergleich eine der höchsten Kaiserschnittraten aufweist – konnte zum Beispiel eine aktuelle Untersuchung bestätigten, dass sich die Sectiorate mithilfe von Personalschulungen und einem geeigneten System zur Informationsübertragung senken ließ. Das Programm startete bereits 2010 und wurde von der Regierung seit 2013 verstärkt vorangetrieben, indem sie sogar ein nationales Komitee zur Senkung der Sectiorate einrichten ließ. Im Ergebnis konnte eine signifikante Reduktion der Kaiserschnittrate von 36,6 % auf 33,1 % über einen Zeitraum von 5 Jahren erreicht werden. In Brasilien, das aktuell mit 55,6 % gemeinsam mit der Dominikanische Republik (56,4 %) weltweit Rekordhalter in Sachen Kaiserschnitt ist, hat man sich ebenfalls zum Handeln entschlossen. Hier setzt man auf behördliche Schulungen des Klinikpersonals sowie stärkere Kontrolle auf den Stationen. Künftig will man hier zudem die Mütter durch gezieltere Aufklärung mit ins Boot holen. Die brasilianische WHO-Expertin Suzanne Serruya bringt die Problematik auf den Punkt: „Kaiserschnitte können Leben retten. Doch es ist wissenschaftlich unumstritten, dass die Geburt normal verlaufen sollte.“ Aufgrund all der Risiken, die jede Operation mit sich bringe, solle der Kaiserschnitt daher stets die Ausnahme bleiben.