Seit einer Woche ist sie live – die sehnlichst erwartete Corona-App. Diese drei Schwachstellen hat sie aus meiner Sicht.
Zuerst eine gute Nachricht: „Die App ist das erste große öffentlich finanzierte Open Source Projekt in Deutschland. Da kann sich die Bundesregierung doch auch mal auf die Schulter klopfen“, sagt Linus Neumann vom Chaos Computer Club (CCC).
Der Code, also der Quelltext, biete keinen Grund, um zu meckern. Und so warnen CCC-Experten auch nicht vor der neuen App. Solche Worte hört man vom CCC eher selten. Schwächen gibt es trotzdem – wenn auch in anderen Bereichen.
Das beginnt beim äußerst fragwürdigen Nutzen. Bekanntlich werden Warnungen unter folgenden Voraussetzungen ausgelöst.
Solche Eckdaten, die auf epidemiologischen Abschätzungen beruhen, sind mit heißer Nadel gestrickt. „Das Warnsignal ist keine wissenschaftlich spezifische Größe”, sagt Prof. Marcel Salathé von der Universität Lausanne. Er hat an einer Schweizer Corona-App gearbeitet. Gemessen wird, wie sich Bluetooth-Signale abschwächen. Was im Freien noch halbwegs funktionieren mag, wird in Räumen oder in Bahnen zum Problem, sobald Gegenstände im Weg sind.
Salathé bewertet falsch-negative Ereignisse als besonders kritisch: Jemand war in der Nähe, aber dies wurde – aus welchem Grund auch immer – nicht korrekt erfasst. Die App sei eben „kein Wundermittel“. Das bedeutet aber auch für Anwender, sich besser nicht allzu sehr darauf zu verlassen. Fühlen sie sich schlecht, kann es trotz fehlender Warnungen ihres Smartphones immer noch SARS-CoV-2 sein.
Auch mit der Nutzung ist das so eine Sache. Zwar hat Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) mehrfach betont, die Nutzung bleibe freiwillig, dürfe aber auch nicht mit Vorteilen verbunden werden. Nun ist das mit Versprechungen so eine Sache. Man erinnert sich später nur ungern daran. Oder, um es mit Konrad Adenauers angeblichen Worten zu sagen: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.“
In keinem Gesetz ist die Freiwilligkeit geregelt. Aber genau diese Freiwilligkeit ist laut Prof. Cornelia Betsch von der Universität Erfurt neben dem Vertrauen in Behörden und der Bereitschaft, Daten zu teilen, ein wichtiges Kriterium, um die App zu nutzen.
Muss ein Gesetz her? Das fordern zumindest auch Bündnis 90/Die Grünen und die Linke im Bundestag und haben einen Entwurf erarbeitet.
Rechtsexperten sehen das ähnlich. „Den Einsatz der App ohne weitere Regelung auf eine Einwilligung der Nutzer*innen zu stützen, ist eine Lösung mit strukturellen Schwächen“, so Dr. Sebastian Golla. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Informationsrecht, insbesondere Datenschutzrecht, an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
„Die strengen Anforderungen an die Einwilligung nach der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) lassen sich nicht dadurch lösen, dass das Mantra der Freiwilligkeit wiederholt wird“, sagt Golla.
Aber selbst, wer sich für die App entscheidet, hat – in seltenen Fällen, zugegeben – Pech. Laut Anke Domscheit-Berg, netzpolitische Sprecherin der Linksfraktion, hätten nicht alle Menschen Handys, auf denen die App funktioniere. „Denn sie läuft nur auf Apple und auf Android-Handys, das sind etwa 80 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer. 20 Prozent haben so ein Handy gar nicht.“
Destatis nennt einen deutlich niedrigeren Anteil sonstiger Betriebssysteme, nämlich unter 1,0 Prozent. Doch selbst im Mainstream gibt es Probleme. Die App läuft ab dem iPhone 6s unter iOS 13.5 beziehungsweise ab Android 6.0 Marshmallow. Älter als fünf Jahre darf das Gerät also nicht sein.
„Das ist ein Spielzeug für die digitale Oberschicht“, sagte Amtsarzt Patrick Larscheid dem Berliner Kurier. Er arbeitet im Berliner Stadtteil Reinickendorf. Die Warn-App spreche etablierte, weiße Menschen an, sagt er. Hochaltrige Menschen und große Familienverbände mit Migrationshintergrund würden von der App nicht profitieren. „Auf alten Smartphones geht sie nicht. Die Leute, die sie nutzen können, zeigen sie auf ihrem neuen Handy und fahren danach mit dem E-Roller zum nächsten Sushi-Laden“, fasst es der Mediziner zusammen.
Fazit: Stoff für viele Forschergruppen
Was die App tatsächlich bringen wird, kann man momentan nicht abschätzen. Sie wird aber mit Sicherheit vielen Wissenschaftlern Stoff für Veröffentlichungen bieten.
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