Zur Behandlung schwerer COVID-19-Fälle soll Remdesivir jetzt in den USA zum Einsatz kommen – für 2.000 Euro pro Patient. Das stört mich gewaltig. Einmal mehr zeigt sich, wie wenig die Pharmaindustrie reguliert wird.
Remdesivir wurde von Gilead Sciences keineswegs für den Einsatz gegen SARS-CoV-2 entwickelt, sondern gegen Ebola. Der Arzneistoff zeigte in Tierexperimenten wünschenswerte Eigenschaften. Nichtmenschliche Primaten wurden zuverlässig geschützt. Er schnitt in einer klinischen Studie mit Ebola-Patienten aber deutlich schlechter ab als die experimentellen Antikörper MAb114 und REGN-EB3. Wie ärgerlich!
Hier wurde kräftig Geld versenkt, bis plötzlich mit SARS-CoV-2 ein passendes Virus um die Ecke kam. Zu Beginn der Pandemie haben forschende Hersteller und Hochschullabors alle nur erdenklichen Arzneistoffe gescreent. Das geht schneller, als bei null zu beginnen. Und Remdesivir gehörte bald zu den heißen Kandidaten. Mehrere klinische Studien wurden initiiert, auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Und bald gab es vielversprechende Resultate.
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) griff tief in ihre Trickkiste – und entdeckte ein besonderes Zulassungsverfahren beim berühmten „Unmet Medical Need“, also bei Erkrankungen ohne Möglichkeit der Therapie. Das Prinzip wird Rolling Review, also fortlaufende Überprüfung aller zur Verfügung stehenden Daten, genannt. Es spart Zeit im Vergleich zum konventionellen Zulassungsverfahren, bei dem Hersteller Dossiers mit ihren Daten einreichen müssen. Ein weiterer Pluspunkt für Gilead.
Vergangenen Freitag knallten dann die Korken. Der EMA-Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) gab sein wohlwollendes Votum zu Remdesivir ab. In wenigen Tagen wird die EMA selbst diesem Vorschlag folgen, wie üblich, und ihre Zulassung verkünden. Die Bewertung basiert auf Daten der NIAID-ACTT-1-Studie, einer Untersuchung des US National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID). Schwer erkrankte COVID-19-Patienten erholten sich unter Remdesivir nach etwa 11 Tagen, verglichen mit 15 Tagen unter Placebo. Bei leichtem oder mittelschwerem Verlauf waren es in beiden Studienarmen 5 Tage. Es gab keinen Unterschied. Daten zur 28-Tage-Mortalität liegen noch nicht vor.
Aus gutem Grund drückt Gilead jetzt aufs Gas. Laut Hersteller ist es gelungen, die Produktionszeit von neun bis zwölf Monaten auf sechs bis acht Monate zu verkürzen. Auch zu den Mengen gibt es grobe Angaben:
Es geht aber nicht nur darum, möglichst schnell viele Patienten zu versorgen. Das Zeitfenster für Remdesivir könnte sich so schnell schließen, wie es sich geöffnet hat – durch Herdenimmunität, aber vor allem durch die rasante Impfstoffentwicklung. Auch später wird man antivirale Wirkstoffe benötigen, aber in deutlich geringerer Menge. Zeit ist also Geld.
Apropos Geld: Als Größenordnung werden derzeit für den US-Markt 2.340 Dollar (etwa 2.000 Euro) pro Patient genannt. Deutlich günstiger kommen wir in Europa auch nicht weg. Das mag Patienten aus Deutschland kaum stören. Ihnen sichert das Sozialrecht Therapien ohne Obergrenze zu, falls es Aussicht auf Erfolg und keine anderen Optionen gibt. Das zahlen letztlich alle Versicherten. Und angesichts der baldigen EMA-Zulassung sind solche Überlegungen ohnehin Makulatur.
Bürger anderer Länder haben dieses Glück nicht. Ihnen fehlt vielleicht die Krankenversicherung – oder es werden nur bestimmte Leistungen erstattet.
Douglas B. White von der University of Pittsburgh School of Medicine sieht nicht nur finanzielle Fragen. Er vermutet, dass Gilead keine ausreichenden Mengen an Remdesivir produzieren wird. Deshalb schlägt White eine bizarre „Lotterie des Lebens und des Todes“ vor:
Solche Vorschläge sind zynisch. Wir dürfen nicht vergessen, dass der wahre Nutzen von Remdesivir beim harten Endpunkt der Mortalität noch unklar ist. Aber sollte die Sterblichkeit wirklich deutlich gesenkt werden, zeigt sich, wie sehr unser System aus dem Ruder gelaufen ist.
Das Problem ist nicht neu, große Wissenschaftler haben die Gefahr, das einige wenige sich auf Kosten der Gemeinschaft bereichern könnten, schon früher gesehen. Wilhelm Conrad Röntgen (1845 bis 1923) verzichtete darauf, seinen Röntgenapparat patentieren zu lassen, damit sich das Verfahren schnell in der Medizin etabliert. Hut ab dafür. Von pharmazeutischen Herstellern kann man das kaum erwarten. Doch es gibt auch hier Grenzen.
Ein Molekül wie Remdesivir, das in 15 bis 20 Syntheseschritten komplett im Labor hergestellt wird, sollte zumindest per Zwangslizenz von vielen Firmen weltweit produziert werden dürfen. Dann bekäme Gilead eine angemessene Entschädigung – und man könnte gleichzeitig deutlich mehr Patienten versorgen.
Wie der britische Guardian berichtet, haben die USA unterdessen nahezu alle Vorräte des Wirkstoffs aufgekauft. Experten befürchten, dass der europäische Bedarf, sobald die Zulassung kommt, nicht gedeckt werden könnte. Die US-Regierung habe über 500.000 Dosen aufgekauft – das mache Gileads Gesamtproduktion von Juli und etwa 90 % der geplanten Produktion von August und September aus.
Dr. Andrew Hill, Experte für Virologie an der Liverpool University, kritisiert dieses Vorgehen: „Man stelle sich vor, das wäre die Impfung. Es gäbe einen Aufschrei. Aber vielleicht ist das ein Vorgeschmack auf die Zukunft.“ Ob er damit recht hat, bleibt natürlich abzuwarten. Sollten die USA demnächst auch einen möglichen Impfstoff horten, würde es mich nicht wundern. Denn auch diesen Deal hat man sich mit Sanofi ja bereits gesichert.
Bildquelle: Derek Thomson, unsplash