In Deutschland sinkt die Zahl der Hebammen immer weiter. Werdende Mütter treffen teilweise extreme Entscheidungen. Die Maßnahmen beinhalten Alleingeburten im Dschungel und exklusive Concierge-Services.
„Ich suche verzweifelt eine Hebamme...leider bisher ohne Erfolg. Endbindung ist Anfang Oktober 2018. Alle bisher angefragten Hebammen haben erst ab Dezember wieder Kapazitäten. (...) Leider sagt einem keiner, dass man am besten direkt nach dem Schwangerschaftstest auf die Suche geht“, schreibt eine werdende Mutter auf Facebook. Hierbei handelt es sich um keinen Einzelfall. Besonders bei Beleghebammen geht der Trend immer weiter nach unten.
Haben im Jahr 2012 noch 1.996 freiberufliche Hebammen schwangere Frauen betreut, waren es 2016 nur noch 1.776 Hebammen. Für 2017 liegen dem Statistischen Bundesamt aktuell keine Zahlen vor. Laut Informationen der Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) würden Frauen vor und gar unter der Geburt in Geburtskliniken oder Perinatalzentren wegen Überlastung abgewiesen. „In einem Fall führte dies sogar dazu, dass eine Mutter ihr Kind, nach vorheriger Abweisung, auf dem Parkplatz der Klinik zur Welt brachte“, berichtet die DGGG. Julia K. aus Berlin wurde trotz augenscheinlich beginnender Geburt Mitte 2017 von einem Krankenhaus abgewiesen. Zwischen Juni und November 2017 mussten einer Umfrage zufolge mehr als 35 Prozent aller Kliniken Schwangere unter der Geburt mindestens einmal weiterschicken. Als Ursachen nannten Ärzte in erster Linie zu wenige Hebammen (65,8 Prozent), gefolgt von überbelegten neonatologischen Stationen (64,4 Prozent), zu wenig Zimmern (56,1 Prozent) und fehlenden Ärzten in der Geburtshilfe (13,7 Prozent).
Zum Hintergrund: Seit Januar 2018 greift nach monatelanger Kontroverse ein neues Abrechnungssystem für Beleghebammen. Basis ist der Schiedsantrag des Bundes freiberuflicher Hebammen Deutschlands (BfHD) und des GKV-Spitzenverbandes. Davor betreuten 46 Prozent drei Geburten parallel, und bei 13 Prozent waren es sogar vier Geburten. Jetzt können sie nur noch zwei geburtshilfliche Leistungen parallel abrechnen, und zwar in 30-minütiger Taktung. Rückwirkend zum 15. Juli 2017 wurden Honorare um mehr als 17 Prozent angehoben. Neue Leistungen wie ein drittes Vorgespräch in der Schwangerschaft und die Einzelunterweisung zur Geburtsvorbereitung sind mit hinzugekommen. Freiberuflichen Hebammen liegt die Berufshaftpflichtversicherung aber schwer im Magen. Deren Jahressatz hat sich innerhalb eines Jahrzehnts exorbitant von 413 Euro (2000) auf 7.639 Euro (Mitte 2017) erhöht. Krankenkassen beteiligen sich zwar über Sicherstellungszuschläge an entsprechenden Kosten. Allerdings müssen Kolleginnen in Vorleistung treten und mitunter Monate auf ihre Erstattung warten. Beim Eigenanteil bleibt es trotzdem. Wie der Deutsche Hebammenverband berichtet, hat sich die Vergütung in letzter Zeit drastisch verringert, wie Zahlen für die Geburt im Krankenhaus zeigen:
Der Elternverein Mother Hood spricht deshalb von einer „katastrophalen Entwicklung“ und fordert bessere Vergütungen. Mütter oder Väter geben sich mit der offiziellen Verbandsarbeit von Hebammen scheinbar nicht zufrieden. Deshalb hat „Mother Hood“ durch mehrere spektakuläre Aktionen für Aufsehen gesorgt. Im Juli veröffentlichte der Verein „Reisewarnungen“ für schwangere Frauen. Sie sollten einigen Regionen Deutschlands mit schlechter Geburtsversorgung besser meiden, siehe Karte. Bald darauf startete Lina Pauling, auf change.org eine Kampagne, um Missstände öffentlich zu machen. Ihre zentralen Kritikpunkte:
„Jede Frau muss das Recht auf eine Hebamme haben“, schreibt Pauling. Ihrer Forderung schlossen sich bereits mehr als 120.000 Bürgerinnen und Bürger an. Der Verein will eine individuelle und evidenzbasierte Geburtshilfe, bei der werdende Mütter Entscheidungen über Eingriffe und Untersuchungen nach entsprechender Information selbst treffen. Frauen sollten wohnortnah versorgt werden, das heißt, ihre Hebamme in maximal 30 PKW-Minuten erreichen. Bei der Geburt wünscht man sich eine kontinuierliche Eins-zu-Eins-Betreuung durch die Bezugshebamme. Routineinterventionen, etwa kontinuierliche CTG-Überwachungen in der Austreibungsphase, Kristeller-Manöver, Episiotomien (Dammschnitte), u.a. sollten auf ein sinnvolles Maß reduziert werden. Kaiserschnitte sind auf maximal 15 bis 17 Prozent zu beschränken.
Die Argumentation stützt sich auf wissenschaftliche Fakten, wie Saraswathi Vedam berichtet. Sie forscht an der University of British Columbia in Vancouver. Zusammen mit Kollegen hat sie ein „Midwifery Integration Scoring (MISS) System“ entwickelt. Hohe Werte im MISS-Score stehen für eine gute Integration von Hebammen in etablierte Versorgungsstrukturen. Dies ist Vedam zufolge in Washington DC (61 von 100 Punkten), New Mexico (59), Oregon (58) oder New Jersey (55) der Fall. Besonders schlecht sieht es in Ohio (20), South Dakota (19), Alabama (18) oder North Carolina (17) aus. USA: Je dunkler der Violettton ist, desto besser ist dei Hebammenversorgung. © Vedam et al., DOI: 10.1371/journal.pone.0192523.g002 Die Forscherin fand Assoziationen zwischen hohen MISS-Werten, vaginalen Geburten generell, vaginalen Geburten nach einem früheren Kaiserschnitt und der Wahrscheinlichkeit, dass Mütter stillen. Niedrigere Mortalitäten standen ebenfalls mit höheren MISS-Werten in Verbindung. Sie führt immerhin 11,6 Prozent des Effekts auf die Versorgung durch Hebammen zurück. Sozioökonomische und ethnische Prädiktoren wirken stärker. Neben medizinisch messbaren Unterschieden ist aber auch das subjektive Wohlbefinden von Bedeutung, berichten das Picker-Institut und die Süddeutsche Zeitung. Sie interviewten 9.600 Wöchnerinnen, die zwischen 2014 und 2017 an 77 deutschen Krankenhäusern entbunden haben. In großen Häusern kritisierten fast doppelt so viele Frauen fehlende Möglichkeiten, mit Hebammen über Ängste zu sprechen (34 versus 19 Prozent). Mangelndes Vertrauen (17 versus 10 Prozent) oder die unzureichende Einbindung in Entscheidungsprozesse (31 versus 21 Prozent) spielten ebenfalls eine Rolle. Wohlgemerkt: Bei der Befragung ging es nicht um harte Qualitätsindikatoren, die mit steigenden Fallzahlen korrelieren. Nur was tun, sollte sich keine Hebamme zur persönlichen Betreuung finden? Wie so oft haben Firmen aus der Not eine Tugend gemacht. Wer das nötige Kleingeld hat, lässt sich über Maternita, einen „Schwangerschafts-Concierge und Baby-Planer“, Geburtshelfer oder Geburtsorte der Wahl vermitteln. Private Geburtsvorbereitungsstunden und Hilfe bei administrativen Aufgaben sind auch verfügbar. „Call a Midwife“ bietet virtuelle Unterstützung durch Hebammen per Videokonferenz oder Telefon.
Dem Wunsch nach Luxus steht ein völlig anderer Trend gegenüber. Immer häufiger entscheiden sich Deutschlands Frauen für eine Alleingeburt, also eine Hausgeburt ohne Hebamme oder Arzt. Jobina Schenk aka „Meisterin der Geburt“ hat in ihrem Blog Berichte gesammelt – von der Niederkunft auf einem Boot bis zur Geburt im Dschungel Thailands. Sarah Schmid hat, wie sie im Blog erzählt, mehrere Alleingeburten hinter sich. Auch Jana Friedrich, Hebamme aus Berlin, schreibt in ihrem Blog über Alleingeburten. Für ihr Vorhaben reiste eine Mutter bis nach Indien. Forscherinnen wie Martine Holländer vom University Medical Center Nijmegen und Lianne Holten vom VU University Medical Center Amsterdam haben sich auf die Suche nach Erklärungen gemacht. Auch in den Niederlanden entscheiden sich Frauen immer häufiger für die Niederkunft ohne fremde Hilfe. Forscherinnen erklären dies mit schlechten Erfahrungen bei früheren Geburten sowie dem Wunsch nach Selbstbestimmung. Auch der Widerstand gegen die technisch orientierte Medizin oder religiöse bis esoterische Vorstellungen spielten bei der Entscheidung eine Rolle. Nicht zuletzt lehnten es manche Frauen ab, mit Fachkräften über mögliche Risiken zu diskutieren.
Rein juristisch steht dem Vorhaben per se nichts im Wege. Nur das österreichische Hebammengesetz fordert, „zur Geburt und zur Versorgung des Kindes eine Hebamme beizuziehen“ (§ 3). In Deutschland sind Frauen hinsichtlich ihrer Wahl frei. Sollten Komplikationen auftreten, macht sich allerdings die Mutter eventuell der fahrlässigen Körperverletzung (§ 222 Strafgesetzbuch) oder gar der fahrlässigen Tötung (§ 229 StGB) schuldig.