Viele Arzneistoffe haben ein hohes diabetogenes Potenzial. Darauf sollten Ärzte und Apotheker vor allem bei Risikopatienten achten und die Laborwerte engmaschig überwachen, falls möglich auch die Medikation anpassen. Lebensstiländerungen wirken sich zudem positiv aus.
Therapie mit Folgen: Eine Patientin, Mitte 50, erhielt aufgrund ihrer Rückenschmerzen Glukokortikoide – und fiel nach mehreren Gaben ins Koma. Ihr Blutzuckerspiegel war auf 585 mg/dl in die Höhe geschnellt. Des Rätsels Lösung: Viele Arzneistoffe können unseren Glukosehaushalt aus dem Gleichgewicht bringen. Ein Überblick:
Glukokortikoide stören in der Leber Effekte von Insulin. Die Folgen: eine stärkere Gluconeogenese und eine vermehrte Freisetzung von Glukose. Gleichzeitig nehmen periphere Gewebe wie unsere Muskulatur Glukose schlechter auf. Entsprechende Zusammenhänge sind nicht neu. Forscher entdeckten in Nebennierenadenomen oft Mutationen, die zur vermehrten Synthese von Cortisol führen – dem bekannten Cushing-Syndrom. Zurück zur Pharmakotherapie: Orale Darreichungsformen gelten als besonders kritisch. Der Effekt von Prednison oder Prednisolon hält bis zu zehn Stunden an; Dexamethason wirkt sogar 24 Stunden. Selbst vergleichsweise niedrige Gaben von 7,5 Milligramm Prednisolonäquivalent bringen unseren Stoffwechsel langfristig außer Takt. Inhalieren Patienten Glukokortikoide, ist die Gefahr neueren Studien zufolge gering. Älteren Arbeiten zufolge lassen sich unerwünschte Wirkungen bei langfristiger, hochdosierter Gabe nicht vermeiden. Selbst topisches Dexamethason führte bei der Anwendung im Bereich der Mundschleimhaut zu Stoffwechselentgleisungen. Bleibt als Empfehlung, im Zweifelsfall regelmäßig das Blutbild zu kontrollieren. Setzen Patienten ihr Pharmakon wieder ab, verbessern sich in vielen Fällen – wenn auch nicht in allen – die Stoffwechsellage.
Kein Einzelfall: HMG-CoA-Reduktasehemmer (Statine) und Nicotinsäure zeigen ebenfalls diabetogene Effekte. Obwohl Wissenschaftler entsprechende Hinweise bei Statinen in der JUPITER- oder in der PROVE-IT TIMI 22-Studie gefunden hatten, reagierten Zulassungsbehörden relativ spät mit Warnungen in der Fachinformation. Sie argumentierten gegen Befunde aus prospektiven Beobachtungsstudien, Patienten würden sich unter Statinen schlecht ernähren. Daten aus placebokontrollierten Studien lassen sich aber nicht entkräften. Mittlerweile ist es Forschern sogar gelingen, ein Modell für den biochemischen Mechanismus zu finden. In der Nähe des HMG-CoA-Reduktase-Gens befinden sich bei manchen Patienten die Genvarianten rs17238484-G und rs12916. Sie sind – wie Statine – mit einer verminderten Aktivität der HMG-CoA-Reduktase assoziiert, aber auch mit einem höheren Körpergewicht und mit größeren Diabetes-Risiken. Wissenschaftler vermuten, positive und negative Effekte gingen Hand in Hand. Hochrisikopatienten profitieren trotzdem von Statinen, das steht außer Frage. Atorvastatin und Simvastatin gelten substanzabhängig im Vergleich zu Pravastatin als potenziell gefährlicher, fanden Wissenschaftler heraus.
Mit Glukokortikoiden oder Statinen ist es nicht getan. Erhalten Patienten Beta-Blocker, blockieren die Arzneistoffe je nach Selektivität β1- und β2-Adrenozeptoren in unterschiedlichem Maße. Peripheres Gewebe wird geringer durchblutet, und Glukose schlechter verwertet. Die Gefahr ist bei unselektiven Arzneistoffen deutlich größer. Thiaziddiuretika in höherer Dosierung beeinflussen den Blutzucker ebenfalls, wenn auch erst Wochen oder Monate nach Therapiebeginn. Sie verstärken die Insulinresistenz in Leberzellen. Gleichzeitig setzt das Organ vermehrt Glukose frei. Kaliumverluste verschlechtern wiederum die Sekretion von Insulin. Grund genug für Ärzte, patientenindividuelle Risiken bei der Pharmakotherapie zu berücksichtigen.
Arzneimittel zur Behandlung psychischer Erkrankungen haben – abhängig von der jeweiligen Substanz – ebenfalls mehr oder minder starke Effekte auf den Stoffwechsel. Erhalten Patienten Clozapin oder Olanzapin, nehmen sie im Schnitt fünf Kilogramm zu. Wissenschaftler vermutet, dass der Leptin-Stoffwechsel beeinflusst und damit auch das Sättigungsgefühl vermindert wird. Die Gewichtszunahme kann letztlich zur Insulinresistenz führen – vor allem bei Patienten, die zu Therapiebeginn bereits etwas Übergewicht hatten. Mehrere amerikanische Fachgesellschaften raten deshalb in einem Konsensuspapier, regelmäßig den BMI, den Bauchumfang, die Nüchternglukose sowie das Lipidprofil zu erfassen.
Während der Effekt von Beta-Blockern, Statinen oder Glukokortikoiden in vielen Fällen reversibel ist, zerstören manche Pharmaka Betazellen unwiederbringlich. Die Beispiele: Patienten mit chronischer Hepatitis C erhalten pegylierte Interferone in Kombination mit Ribavirin und Sofosbuvir. Interferone triggern Autoimmunreaktionen triggern, was zum Verlust von Betazellen führt. Der genaue Mechanismus ist unbekannt. Didanosin, ein Nukleosid-Analogon, führt über eine Pankreatitis in manchen Fällen auch zum Diabetes mellitus. Und Pentamidin, ein Antiprotozoikum mit zusätzlicher Wirksamkeit gegen den HIV-assoziierten Schlauchpilz Pneumocystis jirovecii, schädigt Beta-Zellen direkt. Apropos HIV: Proteinase-Inhibitoren wie Lopinavir oder Ritonavir zerstören zwar keine Betazellen. Sie hemmen aber den Glukosetransporter GLUT-4. Unter der antiretroviralen Therapie kommt es generell zu Lipodytsrophien und damit auch zum metabolischen Syndrom.
Bleibt als Fazit: Ob sich Stoffwechselstörungen in klinisch relevantem Maße zeigen, hängt nicht nur vom Medikament allein ab. Liegen klassischen Risikofaktoren vor, entfalten diabetogene Wirkstoffe häufig ihre unerwünschte Wirkung. Zur Abschätzung eignet sich der FINDRISK-Fragebogen. Ärzten bleibt nur, nach Möglichkeit ihre Medikation zu ändern. Gleichzeitig sollten sie Patienten ermuntern, ihren Lebensstil zu ändern: mehr Bewegung, weniger Gewicht und kein Nikotinkonsum.