Bislang ging man davon aus, dass die Dominanz der linken Hirnhälfte bei der Verarbeitung von Sprachen unabhängig von deren physikalischer Struktur ist. Bei der Wahrnehmung von türkischer Pfeifsprache sind jedoch beide Hirnhemisphären gleichermaßen involviert.
Die Wahrnehmung aller gesprochenen Sprachen – auch solcher mit Klicklauten –, geschriebener Texte und sogar von Zeichensprache involviert die linke Hirnhälfte stärker als die rechte. Die rechte Hemisphäre hingegen verarbeitet akustische Informationen über langsame Frequenzen, Tonhöhe und Melodie. Gängige Meinung ist es, dass die Asymmetrie unabhängig von den physikalischen Eigenschaften einer Sprache ist. „Die Theorie lässt sich leicht überprüfen, wenn man eine Sprache mit all den physikalischen Eigenschaften hat, auf deren Wahrnehmung die rechte Hirnhälfte spezialisiert ist“, sagt Onur Güntürkün. „Wir können uns unglaublich glücklich schätzen, dass es so eine Sprache gibt – nämlich gepfiffenes Türkisch.“ Das Bochumer Team testete 31 Bewohner von Kuṣköy, einem Dorf in der Türkei, die sowohl Türkisch sprechen als auch pfeifen können. Über Kopfhörer wurden ihnen entweder gepfiffene oder gesprochene türkische Silben präsentiert. In einigen Versuchsdurchgängen hörten sie unterschiedliche Silben auf beiden Ohren, in anderen Durchgängen die gleichen Silben. Sie sollten jeweils angeben, welche Silbe sie wahrgenommen hatten. Die linke Hirnhälfte verarbeitet Informationen vom rechten Ohr, die rechte Hirnhälfte vom linken Ohr.
Für gesprochenes Türkisch zeigte sich eine klare Asymmetrie: Hörten die Teilnehmer unterschiedlichen Silben, nahmen sie die Silbe des rechten Ohres signifikant öfter wahr – eine Dominanz der linken Hemisphäre. Diese Asymmetrie gab es bei gepfiffenem Türkisch nicht. „Die Ergebnisse zeigen uns, dass Hirnasymmetrien auf einer sehr frühen Ebene der Signalverarbeitung entstehen“, resümiert der Bochumer Forscher.
Gepfiffenes Türkisch enthält die gleichen Begriffe und folgt den gleichen grammatikalischen Regeln wie Türkisch. „Es ist einfach nur ein anderes Format, so wie es geschriebenes und gesprochenes Türkisch gibt“, beschreibt Onur Güntürkün. Eine kleine Gruppe von Menschen im bergigen Nordosten der Türkei nutzt die Pfeifsprache, die über Entfernungen von einigen Kilometern hörbar ist. „Obwohl ich Türke bin, habe ich verrückterweise zum ersten Mal in Australien vom gepfiffenen Türkisch gehört“, erzählt der Biopsychologe. „Mir war sofort klar, dass die Natur uns damit das perfekte Mittel bereitstellt, um die Theorie zur Asymmetrie der Sprachwahrnehmung zu überprüfen.“ Originalpublikation: Whistled Turkish alters language asymmetries Onur Güntürkün et al.; Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2015.06.067; 2015