GASTBEITRAG | Dr. med. Christiane Groß ist Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes. Hier antwortet sie auf den Beitrag von „der Giftmischer“ vom 22. Juli.
Viele Ärztinnen und Ärzte setzen sich demnächst zur Ruhe. Doch eine Männerquote im Medizinstudium ist nicht das richtige Mittel, um der drohenden Versorgungslücke etwas entgegenzusetzen.
Viel wichtiger sind Arbeitsbedingungen, die es jungen Ärztinnen ermöglichen, ihren Beruf auszuüben. Derzeit drängt das System sie in überholte Rollenmuster – und damit aus der Patientenversorgung. In kaum einer anderen Fächergruppe ist die Diskrepanz zwischen dem Studentinnen-Anteil und dem Anteil an Professorinnen so groß wie in der Medizin. Das belegen Zahlen der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (Heft 65). Die Untersuchung „Medical Women on Top“ des Deutschen Ärztinnenbundes von 2016 hat ergeben, dass Lehrstühle an deutschen Universitätskliniken nur zu 10 % mit Frauen besetzt waren, beim Update 2019 (MWoT - Update 2019) waren es gerade einmal 3 % mehr.
Dr. Christiane Groß © Jochen Rolfes Wie die Antwort der Bunderegierung auf die kleine Anfrage der Grünen zu den Spitzenpositionen im Gesundheitswesen zeigt, ist es bei Klinikleitungen und anderen Spitzenpositionen nicht anders. Tatsächlich lösen sich die Ärztinnen auf dem Weg zu einer medizinischen Karriere jedoch keineswegs „in Luft auf“, wie es „der Giftmischer“ in seinem Beitrag vom 22. Juli ausdrückt.
Vielmehr werden sie aktiv am Aufstieg gehindert – und zwar von einem medizinischen System, das führungsambitionierte Frauen ganz offensichtlich stärker benachteiligt als das andere akademische Berufe tun. Der auffallend niedrige Anteil von weiblichem Führungspersonal in der Medizin belegt genau das: eine Chancenungleichheit zwischen den Geschlechtern, die vom System herrührt.
Diese Ungleichheit ist es auch, die dafür sorgt, dass Ärztinnen in der Patientenversorgung „zumindest zeitweise verloren gehen“, um noch einmal die Worte von „der Giftmischer“ zu gebrauchen. Nur Frauen können Kinder gebären. Aber kein Naturgesetz schreibt als Ausgleich für dieses wundervolle Privileg vor, dass sich Mütter reihenweise und für längere Zeit rein ins Private zurückziehen müssen. Wenn das, wie in der Medizin noch häufig, tatsächlich passiert, liegt es an Rahmenbedingungen, die es Frauen oft unmöglich machen, Beruf und Privates unter einen Hut zu bringen.
In der Medizin und vor allem an Kliniken sind wöchentliche Arbeitszeiten von 50, 60 oder mehr Stunden noch üblich. Das zwingt berufstätige Ärztinnen und Ärzte, die sich zeitgleich um Kinder kümmern möchten, geradezu in Teilzeitmodelle. Bei einer derart hohen Arbeitsbeanspruchung müssen Versuche, Elternaufgaben und ärztliche Tätigkeit gleichermaßen abzudecken, fast immer scheitern. Wer Kinder hat, beugt sich den Umständen. Selbstbestimmung sieht anders aus. Der Deutsche Ärztinnenbund e.V. (DÄB) fordert daher seit vielen Jahren, die Arbeitsbedingungen für Ärztinnen – und auch Ärzte – familienfreundlicher zu gestalten. Wenn schon keine „normalen“ Arbeitszeiten von 40 Stunden pro Woche schnell umzusetzen sind, dann muss über alternative Arbeitszeitmodelle von tage-, wochen-, monatsweise nachgedacht werden.
Der Wunsch nach einer Work-Life-Balance, die dem Begriff gerecht wird und die Arbeit nicht überbetont, ist kein spezifisch weibliches Anliegen. Spätestens seit der Generation Y, der Jahrgänge 1980 bis 1995, sehen Männer und Frauen gleichermaßen ihren Lebenssinn nicht mehr darin, sich im Beruf aufzureiben. Auch Männer möchten ihren Anteil an der Erziehungsarbeit leisten und allgemein die Gleichberechtigung in einer Partnerschaft leben.
Die Medizin böte die nötigen Freiräume: etwa Gemeinschaftspraxen oder Praxisgemeinschaften, in denen sich mehrere Kolleginnen und Kollegen zusammenschließen und sich abstimmen, um sich ihre familiären und beruflichen Wünsche zu erfüllen. Selbst Kinderbetreuung könnte man so als gemeinsame Aufgabe integrieren. Oder Lebensarbeitszeitkonten, so dass Eltern während der Erziehungsphase weniger arbeiten und später mehr. Auch das Anrechnen von Nacht- und Wochenenddiensten auf die wöchentliche Arbeitszeit und damit auch auf die Weiterbildungszeit könnte dazu beitragen, die Belastung während der Familienphase zu verringern. Der DÄB hat viele solcher Lösungsansätze in petto. Sie werden in unserem Gesundheitssystem aber immer noch viel zu selten diskutiert.
Stattdessen wird Medizinstudierenden klar gemacht: Wer von der Norm abweicht, die aus einer Zeit stammt, in der gutbürgerliche Frauen zu Hause saßen und Männer die Gesellschaft dominierten, hat hier keine Chance. Das ist die Misere, die der winzige Anteil von 13 Prozent von Ärztinnen in Führungspositionen (Studie MWoT - Update 2019) belegt – und keinesfalls die Unlust von Frauen, als Ärztinnen Einsatz zu zeigen.
Ich bin selbst Mutter und es gehört zum Selbstbestimmungsrecht von Frauen, wenn sie längere Zeit mit ihren Kindern verbringen möchten. Aber Begriffe wie „Rabenmutter“, die es nur im Deutschen gibt, deuten darauf hin, dass die Öffentlichkeit hierzulande die Verantwortung für die Kindererziehung immer noch überwiegend den Frauen zuschreibt – ob sie es sich nun wünschen oder nicht. Junge Ärztinnen, das wissen wir beim DÄB aus Erfahrung, sehen sich daher noch oft mit diesen Klischees konfrontiert. Solange solche Rollenmuster das Unterbewusstsein der Gesellschaft bestimmen, bleiben Lösungsansätze für die Vereinbarkeit in den Kinderschuhen stecken. Dabei heißt Vereinbarkeit eben auch, gefühlt ausreichend Zeit für ein Privatleben zu haben und keinen Erwartungsdruck zu spüren.
Eine Ursache für die unbefriedigende Passung zwischen Privatleben und Beruf ist die nach wie vor männlich geprägte Sicht aus den Spitzenpositionen in der Medizin: Solange auf Lehrstühlen, in Klinikleitungen und in den Topämtern der ärztlichen Gremien der Selbstverwaltung fast ausschließlich Männer über die Entwicklung des Berufsstandes diskutieren, besteht zu befürchten, dass sich weiterhin wenig ändern wird.
Es fehlt häufig die weibliche Perspektive. Die Abwesenheit von Diversität in den Entscheidungspositionen der Medizin ist ein Wettbewerbsnachteil. Studien belegen, dass Unternehmen mit gemischten Teams erfolgreicher arbeiten. In der Wirtschaft beginnt allmählich ein Umschwung – sicherlich auch getrieben vom Fachkräftemangel – der rückwärtsgewandte Firmen für Nachwuchstalente reizlos macht.
Fehlende Chancengleichheit und damit fehlende Attraktivität ist das wahre Problem der Medizin im Hinblick auf drohende Versorgungsengpässe. Sinnvolle Gegenmaßnahmen? Im niedergelassenen Bereich benötigen wir mehr Motivation und Werbung dafür, dass Selbständigkeit eine gute – vielleicht sogar eine bessere – Chance für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellt.
Es ist kontraproduktiv, dass oft behauptet wird, eine gute Work-Life-Balance sei nur im Angestelltenverhältnis möglich. Schädlich ist auch, dass freiwerdende Praxen für junge Menschen unbezahlbar werden, weil es einen unfairen Preiskampf mit finanziell gut aufgestellten, gewinnorientierten oder gar börsennotierten Institutionen gibt. Alles Probleme übrigens, die nicht nur Ärztinnen betreffen, sondern auch Ärzte!
Im Angestelltenbereich braucht die Medizin neben besseren Arbeitsbedingungen Frauenquoten für Führungspositionen. Sonst dauert es noch Jahrzehnte, ehe sich der Mangel an Diversität rein durch den gesellschaftlichen Druck ausgleicht. Tatsächlich ist das aktuelle Veränderungstempo zu langsam, um die Versorgungsqualität in der Medizin auf Dauer hoch zu halten.
Das Potential ist da, es muss gehoben werden! Ärztinnen muss es jetzt möglich sein, Familie und Beruf gut zusammenzubringen. Ärztinnen müssen jetzt davon überzeugt werden, dass Selbständigkeit eine Chance dazu bietet. Klinikverwaltungen müssen jetzt verstehen, dass sie durch veränderte Arbeitszeitstrukturen Ärztinnen aber auch Ärzte an sich binden können. Erst wenn die Weichen richtig gestellt sind und Parität zumindest annähernd in den entscheidenden Positionen herrscht, lohnt es sich vielleicht, über eine 50:50 Quote bei der Vergabe von Studienplätzen nachzudenken. Womöglich hat sich diese Diskussion aber dann erübrigt und Medizin ist wieder ein begehrtes Fach für Frauen und für Männer.
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