Mittlerweile ist wissenschaftlich belegt, dass Einsamkeit die Entstehung von Krebs und anderen schweren Erkrankungen beeinflusst. Deshalb gibt es in Großbritannien seit Jahresbeginn einen „Minister of Loneliness“. Hierzulande wird das Problem noch unterschätzt.
Jeder zehnte Teilnehmer im Alter zwischen 35 und 74 Jahren fühlte sich einsam, so lautet das Ergebnis der Gutenberg-Gesundheitsstudie der Universitätsmedizin Mainz. Dieses Gefühl geht mit gefährlichen Faktoren einher, wie die Befragung ergab. An der Untersuchung, die im Jahr 2007 startete und deren erste Phase im April 2018 endete, hatten etwa 15.000 Menschen zwischen 25 und 85 Jahren aus Mainz und dem Kreis Mainz-Bingen teilgenommen. „In unserer aktuellen Studie waren vor allem die Alleinlebenden in den jüngeren Altersgruppen für das Gefühl von Einsamkeit empfänglich [...] “, so Manfred Beutel, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. „Einsamkeit birgt unseren Daten zufolge aber ernste Risiken für die seelische Gesundheit [...].“ Mehr als die Hälfte der sehr einsamen Personen litt laut der Untersuchung auch unter Depressionen, 40 % unter allgemeinen Ängsten, des Weiteren berichteten etwa 40 % über Selbstmordgedanken. Von den Teilnehmern, die sich nicht einsam fühlten, dachten dagegen nur 6 % über einen Suizid nach.
Einsamkeit ist jedoch nicht zu verwechseln mit Alleinsein, das einen Zustand beschreibt und von Menschen häufig als beruhigend empfunden wird. Einsamkeit ist im Gegensatz zu Alleinsein ein Gefühl und hängt nicht von der An- oder Abwesenheit anderer Personen ab. „Wer allein lebt (Singlehaushalt), wenige Sozialkontakte hat oder nur ein kleines Netzwerk von sozialen Beziehungen aufrechterhält, weist eine größere soziale Isolation auf als jemand, der viele Freunde und Bekannte hat und mit anderen zusammenlebt. Ob dieser Mensch sich deswegen einsam fühlt, ist dennoch offen“, erklärt der Psychologe Manfred Spitzer in seinem Buch „Einsamkeit – die unerkannte Krankheit“. „Ein an Depression erkrankter Mensch kann in einer intakten Familie leben, sehr viele Freunde und Bekannte haben und sich dennoch sehr einsam fühlen“, so Spitzer weiter und verweist auf eine Studie [Paywall] von Caitlin Coyle und Elizabeth Dugan aus dem Jahr 2012. Die Wissenschaftler der University of Massachusetts-Boston, USA, hatten Daten von etwa 1.000 Personen über 50 Jahren ausgewertet und kamen zu dem Schluss, dass soziale Isolation und Einsamkeit nicht einmal stark miteinander korrelieren (r = 0,201; p = 0,000).
Vielmehr sprechen Forschungsergebnisse dafür, dass Einsamkeit in bestimmten sozialen Konstellationen gehäuft auftritt. So sollen Menschen, bei denen ein Familienmitglied oder ein enger Freund einsam ist, eine ca. 50 % höhere Wahrscheinlichkeit haben, sich ebenfalls einsam zu fühlen als Menschen, bei denen das nicht der Fall ist. Dieser Effekt sei noch über bis zu drei Verbindungen messbar: Ist der Freund eines Freundes einsam, ist das Risiko, sich selbst einsam zu fühlen, „nur noch“ um 25 % erhöht und ist der Freund eines Freundes eines Freundes einsam, sinkt die Wahrscheinlichkeit auf 15 %. Zu diesen Ergebnissen kamen der Psychologe John Cacioppo von der Universität Chicago und Kollegen, die bei dieser Untersuchung Daten aus der Framingham Heart Study verwendeten.
Während nun Alleinsein auch als wohltuend empfunden wird, ist Vereinsamung häufig mit Schmerz verbunden. Denn Einsamkeit und Schmerzen werden im menschlichen Gehirn im gleichen Bereich der Gehirnrinde verarbeitet, dem anterioren zingulären Kortex (ACC). Der Zusammenhang sei vermutlich evolutionär bedingt, so Spitzer. Schmerzen würden die körperliche und soziale Unversehrtheit sichern und vor lebensbedrohlichen Situationen, wie z. B. dem Ausschluss aus der Gemeinschaft, warnen. In seinem Buch erläutert Spitzer den Zusammenhang anhand zweier Fälle aus der Praxis: Schmerzpatienten, die ihren Partner verlieren, bräuchten zuweilen eine intensivere Schmerztherapie und Patienten mit einem gut funktionierenden sozialen Netzwerk würden Therapieschmerzen besser ertragen. Doch nicht nur die Einsamkeit beeinflusst das Empfinden von Schmerzen. Umgekehrt kann die Einnahme von Schmerzmitteln auch das Gefühl der Einsamkeit reduzieren – so lautet jedenfalls das Ergebnis einer Untersuchung amerikanischer Psychologen [Paywall] aus dem Jahr 2010. 62 Teilnehmer hatten damals über einen Zeitraum von drei Wochen entweder zweimal 500 mg Paracetamol oder zweimal ein Placebo eingenommen und abends die Stärke ihrer „sozialen Schmerzen“ dokumentiert.
Andere Studien sprechen dafür, dass Einsamkeit nicht nur Schmerzen bereitet, sondern auch das Risiko für verschiedene Erkrankungen erhöht. Ein Beispiel hierfür ist die Studie der Wissenschaftler der University of York, Großbritannien, die sich mit der Frage beschäftigt haben, wie Einsamkeit und soziale Isolation mit der koronaren Herzkrankheit und Schlaganfall zusammenhängen. Für ihre Metaanalyse hatten die Forscher 23 Studien mit insgesamt etwa 3.000 Schlaganfall und 4.500 Herzinfarkt -Fällen ausgewertet. Das Follow-up der einzelnen Studien betrug zwischen drei und 21 Jahren. Dabei zeigte sich, dass Menschen mit wenigen sozialen Beziehungen unabhängig von ihrem Geschlecht ein um ca. 30 % erhöhtes Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risiko hatten. Wenige soziale Kontakte erhöhen demnach die Wahrscheinlichkeit für kardiovaskuläre Ereignisse ähnlich stark wie z. B. Angststörungen oder eine berufliche Belastung, so die Autoren. Für valide Aussagen seien die verwendeten Daten allerdings nicht ausreichend gewesen. Zudem sei auch die Qualität der Daten teilweise als mangelhaft zu bewerten. Weiteren Studien zufolge haben einsame Menschen zudem ein höheres Risiko für Bluthochdruck, Lungenkrankheiten, Übergewicht, Diabetes und Krebserkrankungen.
Einsamkeit erhöht jedoch nicht nur die Morbidität, sondern auch die Mortalität. Im Januar 2018 haben spanische Neurologen zu diesem Thema eine Übersichtsarbeit veröffentlicht, für die sie 35 Studien mit insgesamt ca. 77.000 Teilnehmern analysierten. Demnach hat Einsamkeit eine schädigende Wirkung auf die Gesamtsterblichkeit, wobei dieser Effekt bei Männern etwas stärker ausgeprägt war [Hazard ratio (Männer) = 1,44; Hazard ratio (Frauen) = 1,26]. Bereits acht Jahre früher, im Jahr 2010, hatten die Forscher um Julianne Holt-Lundstad vom Department of Psychology der Brigham University, USA, publiziert, dass Menschen mit vielen Sozialkontakten eine durschnittlich um 50 % erhöhte Überlebenswahrscheinlichkeit aufweisen als Leute mit mangelhaften Sozialkontakten. Damit, so die Autoren, würde sich Einsamkeit ebenso stark auf den vorzeitigen Tod auswirken wie Rauchen, Bewegungsmangel oder Übergewicht. Vorgestellt wurde diese Metaanalyse, für die das Forscherteam 148 Studien (von 1900 bis 2007) mit insgesamt etwa 300.000 Teilnehmern analysiert hatten, auf der 125. Jahreskonvention der American Psychological Association in Washington.
Wie kann ein Gefühl Morbidität und Mortalität beeinflussen? Laut Neurowissenschaftler Cacioppo verursacht Einsamkeit Stress. Stress ist eine Alarmfunktion des Körpers, die sich auf die Leukozyten-Produktion auswirken kann. Frühere Studien hatten gezeigt, dass ein Zusammenhang zwischen Einsamkeit und einem Phänomen besteht, das die Wissenschaftler als „conserved transciptional response to adversity“ (CTRA) bezeichneten. Dabei werden zum einen Gene, die eine Entzündungsreaktion veranlassen, vermehrt exprimiert und zum anderen Gene, die bei der Virusabwehr beteiligt sind, gebremst. Wenn Menschen Einsamkeit als Stress empfinden, wird der Sympathikus aktiviert und der Neurotransmitter Norepinephrin vermehrt gebildet. Diese Veränderungen könnten, so die Wissenschaftler, die Einsamkeit verstärken und an der Entstehung der mit der Einsamkeit verbundenen Krankheiten beitragen. Die Forscher fanden sogar Hinweise, dass die insuffiziente Immunreaktion die Einsamkeit weiter verstärkt. Es könnte zu einem Kreislauf kommen, an dessen Ende dann Krankheit und ein vorzeitiger Tod stehen. Das Team will dies in weiteren Untersuchungen an älteren Erwachsenen klären.
Im Jahr 2016 rief ein junger Mann kurz vor Weihnachten den Hashtag #keinertwittertallein ins Leben. Tausende reagierten auf den Aufruf. Anfangs brachte die Aktion Menschen virtuell zusammen, mittlerweile entstehen daraus auch reale Treffen, um etwa Weihnachten nicht alleine verbringen zu müssen. Dass das Thema Einsamkeit mehr Beachtung verdient, erkennen auch immer öfter Politiker. Seit Jahresbeginn gibt es in Großbritannien beispielsweise einen „Minister for Loneliness“, der sich des Problems annehmen soll. Auch in der deutschen Regierung tut sich was: Im von Union und SPD verabschiedeten Koalitionsvertrag heißt es: „Angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalen Gesellschaft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen.“ Der SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach fordert sogar, dass das Thema Einsamkeit einem Verantwortlichen z. B. im Gesundheitsministerium übergeben wird.