Es ist von einer „Orphanisierung“ die Rede. Gemeint ist das lukrative Geschäft mit den Medikamenten für seltene Erkrankungen. Sind die Gesetze zu lasch?
In der Vergangenheit gab es bereits zahlreiche Versuche, ein Ausnutzen des Orphan-Drugs-Status durch die Hersteller zu verhindern. Der letzte Vorstoß kam durch das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) am 16. August 2019.
Nun stehen die Hersteller der Orphan Drugs erneut in der Kritik. Zwei Journalisten werfen den Herstellern vor, sie hätten systematisch eine „Orphanisierung“ ihrer Medikamente betrieben.
Was es vorab zu klären gibt: Gibt es denn wirklich so viele Vorteile für die Inverkehrbringer, dass es sich über Gebühr lohnt, ein solches Medikament auf den Markt zu bringen?
Ja, denn weltweit soll die Forschung an Medikamenten für seltene Erkrankungen gefördert werden.
Der Orphan-Drug-Status führt innerhalb der EU zwar per se nicht zu einer beschleunigten Zulassung, doch das in Verkehr bringende Pharmaunternehmen hat dadurch andere Vorteile. Das sind beispielsweise eine wissenschaftliche Unterstützung bei Studienprotokollen und natürlich der Zugang zu EU-Zuschüssen.
Außerdem haben Arzneimittel mit Orphan-Drug-Status 10 Jahre lang Marktexklusivität – und sogar 12 Jahre, wenn der entsprechende Wirkstoff auch eine Indikation zur Behandlung von Kindern erhält. Nach 5 Jahren im Markt wird überprüft, ob der Status für das Medikament noch zutrifft.
All das wurde etabliert, um die Not und das durchaus vorhandene Versorgungsdefizit von Patienten mit seltenen Krankheiten zu lindern. Doch werden immer wieder Vorwürfe laut, die pharmazeutischen Unternehmen würden die genannten Vorteile zu ihren Gunsten ausnutzen, ein Medikament als Orphan Drug in Verkehr bringen, um dann sukzessive neue Indikationen „freischalten“ zu lassen.
Auch, das sogenannte Herausschneiden von Untergruppen aus größeren Anwendungsgebieten (Slicing) soll angeblich gang und gäbe sein, um die Medikamente teurer verkaufen zu können. Dies weisen die Pharmafirmen weit von sich.
Ein neuer Vorwurf wird nun von den Journalisten Daan Marselis und Lucien Hordijk formuliert, die für die Organisation „The Investigative Desk“ arbeiten. Veröffentlicht hat den Bericht das British Medical Journal. Sie berufen sich dabei auf eine Mitteilung der EU-Kommission und bezichtigen verschiedene Pharmafirmen des Missbrauchs.
Die Journalisten behaupten, einige Orphan Drugs seien jahrelang geschützt vermarktet worden, obwohl sie diesen Schutzstatus nicht gebraucht hätten, und auch ohne diese zusätzliche Protektion auf den Markt gekommen wären.
Wörtlich übersetzt heißt es in dem Bericht der EU-Kommission:
„Seit der Anwendung der Orphan-Verordnung bis 2017 wurden (…) 142 Orphan-Arzneimittel zugelassen. Es wurde jedoch geschätzt, dass die Anzahl der neuen Arzneimittel für seltene Leiden, die der EU-Verordnung über seltene Leiden zugeordnet werden können, 18 bis 24 beträgt. Während diese Produkte ohne diese Verordnung nicht erhältlich gewesen wären, wären die anderen trotzdem eingeführt worden, auch dank ihrer Entwicklung in anderen Regionen wie den USA.“
Gegenüber der Health Policy Watch formulierte Daan Marselis noch einen weiteren Vorwurf. Verschiedene pharmazeutische Unternehmen hätten nach und nach für dasselbe Medikament verschiedene weitere Indikationen beantragt, um ihre Marktschutzdauer über die zehn Jahre hinaus zu verlängern.
Seit 2001 genießen 14 Medikamente nach Angaben von „The Investigative Desk“ durch diesen Trick eine Marktexklusivität von fünfzehn oder zwanzig Jahren – und das unabhängig davon, ob sie eine Indikation zur Behandlung von Kindern aufweisen können. Die Umsätze, die sie dabei erzielen konnten, sind teilweise enorm.
Bildquelle: Health Policy Watch
Viele der geäußerten Vorwürfe sind nicht neu, doch sind diese der EU-Kommission ja durchaus bewusst, sonst wären die Zahlen im März nicht in dieser Form veröffentlicht worden. Unternommen wurde dennoch nichts.
Außerdem merken die beiden Autoren in ihrem Artikel selbst an, dass es für 95 Prozent der seltenen Erkrankungen bisher noch immer keine Therapiemöglichkeiten gibt. Das würde eigentlich dafür sprechen, die Regularien nur feinzujustieren, um die weitere Forschung nicht zu verhindern und gleichzeitig den Missbrauch weitestgehend aus der Welt zu schaffen.
Nicht nur die Industrie, auch alle betroffenen Patientenverbände begrüßen die Regularien für die Orphan Drugs ausdrücklich, da ansonsten vermutlich weit weniger geforscht werden würde, wenn es sich finanziell nicht lohnt.
Da die Pharmafirmen außerdem nur die Umsatz- nicht aber die Gewinndaten für ihre Medikamente veröffentlichen, bleibt es weiterhin unklar, in wie weit sie sich tatsächlich am Schutzstatus der Orphan Drugs bereichert haben.
Die EU-Kommission muss in jedem Fall dringend nachbessern, denn die Vorwürfe wiegen schwer.
Abschließend lässt sich sagen: Der Schutzstatus für Orphan Drugs ist wichtig, die Schlupflöcher sollten aber in jedem Fall gestopft werden.
Bildquelle: Sergi Viladesau, Unsplash