Chronoprävention und Chronotherapie sind alte Themen, auf die man sich zurzeit in der modernen Medizin wieder rückbesinnt. Ein Forscherteam hat nun bisherige Erkenntnisse zu zirkadianen Rhythmen von Organen und Erkrankungen systematisch aufgeführt.
Die Gründe für die verschiedenen zeitlichen Abläufe sind vielfältig. Zum einen gehen Wissenschaftler von einer genetisch festgelegten Uhr aus, die die Vorgänge in den Organsystemen steuert. Hinzu kommen innere Faktoren wie neuroendokrine, hormonelle, immunologische und sympathische/parasympathische Einflüsse, die sowohl mit der inneren Uhr als auch mit äußeren Einflüssen wie z. B. Hell-Dunkel-Rhythmen, Jahreszeiten, eigene Aktivitäten, Schlaf-Wach-Rhythmus, Ernährungsgewohnheiten, Medikationen usw. in enger Verbindung stehen. Der Wissenschaftler Michael H. Smolensky und Kollegen der University of Texas (USA), der Ferrara-Universität (Italien), der Vigo-Universität (Spanien) und der University of Minnesota (USA) haben in zwei ausführlichen Reviews [Paywall] zirkadiane Rhythmen der menschlichen Organismen und verschiedener Erkrankungen zusammengetragen.
Während sich Migränekopfschmerzen sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern typischerweise morgens zwischen 4 und 9 Uhr breit machen, tritt der Cluster-Kopfschmerz häufig während der REM-Phasen des Schlafes zwischen 0 und 3 Uhr morgens auf. Spannungskopfschmerzen hingegen sind das Ergebnis lang anhaltender Spannung am Tage und sind daher meistens am späten Nachmittag ein Problem. Früh morgens treten sie äußerst selten auf. Die zyklische Vertigo, möglicherweise ein Ausdruck der vestibulären Migräne, quält die Betroffenen meistens am Morgen. Das „rote Auge“ (konjunktivale Hyperämie) als Zeichen einer Bindehautentzündung verschlimmert sich meistens beim Aufwachen am Morgen. Mittags lassen die Beschwerden deutlich nach, während sie sich am Abend bis zur Schlafenszeit wieder verschlimmern. Dieser Zyklus entspricht den natürlichen Durchblutungs- und Temperaturschwankungen der Konjunktiven. Die Keratokonjunktivitis sicca (Trockenes Auge) hingegen verschlimmert sich stetig während des Tages und quält die Betroffenen nachts am stärksten.
Zwischen 6 und 12 Uhr vormittags ereignen sich plötzliche Herztode am häufigsten. Patienten mit ST-Hebungsinfarkten landen meistens nachts in der Notaufnahme. Supraventrikuläre und ventrikuläre Arrhythmien treten meistens während der Tagesaktivitäten auf. Der plötzliche Herztod von Typ-1-Diabetikern (In-bed sudden death syndrome, IBSDS) hingegen ereignet sich fast ausnahmslos während des Nachtschlafes. Hier spielen wahrscheinlich viele Faktoren hinein, wie z. B. die QT-Intervall-Verlängerung, die kardiale autonome Neuropathie und schließlich die ventrikuläre Tachyarrhythmie bei akuter Hypoglykämie, so die Autoren. Symptome der chronischen Herzinsuffizienz wie Ödeme und Atemnot verschlimmern sich während des Tages und weiten sich gerade nachts zu medizinischen Notfällen aus. Der akute Myokardinfarkt tritt besonders häufig am Morgen auf. Seltener erleiden die Menschen am späten Nachmittag oder frühen Abend einen Herzinfarkt. Während der Nacht ist das Auftreten eines Herzinfarktes am unwahrscheinlichsten. Anders ist es unter Medikation: In einigen Studien gibt es Hinweise darauf, dass Patienten, die mit Beta-Blockern oder ASS behandelt werden, seltener am Morgen einen Herzinfarkt erleiden. Auch der Blutdruck ist Tagesschwankungen unterlegen. Sowohl der systolische als auch der diastolische Wert steigen bei gesunden Menschen morgens beim Aufwachen rasch an und erreichen ihren Peak während der Tagesaktivitäten. Am späten Abend sinken die Werte wieder ab. Während des Schlafes ist der Blutdruck etwa 10–20 % niedriger als während des Tages. Sowohl ischämische als auch hämorrhagische Schlaganfälle treten besonders häufig morgens auf. Auch am späten Nachmittag bzw. frühen Abend kommt es relativ häufig zu Schlaganfällen, während sie nachts relativ selten auftreten. Dieses Muster ist sowohl bei normotensiven als auch bei hypertensiven Menschen gleichermaßen zu finden. Tiefe Beinvenenthrombosen und Lungenembolien treten meistens zwischen 10.30 Uhr und 12.30 Uhr auf. Der Lungenembolie-bedingte Tod tritt ebenfalls besonders häufig morgens auf, sowohl bei Patienten im Krankenhaus als auch außerhalb.
Bei Erkältungen ist die Rhinorrhoe ein besonders lästiges Symptom. Die Beschwerden verschlimmern sich zum Abend hin und werden von den meisten Betroffenen auch früh morgens als besonders schlimm empfunden. Husten tritt hingegen besonders stark am Mittag auf. Auch allergische Symptome verschlimmern sich zum Abend hin. Viele Allergiker können nachts aufgrund der Symptome nicht schlafen. Besonders schwer äußern sich allergische Symptome auch morgens nach dem Aufwachen. Asthmatische Beschwerden werden während des Tages durch Nahrungs- oder Duftstoffe immer wieder getriggert. Doch schwere asthmatische Symptome äußern sich meistens nachts, besonders zwischen 4 und 5 Uhr morgens. Dies entspricht den Beobachtungen der chinesischen Medizin: Nach der chinesischen Organuhr ist die Zeit zwischen 3 und 5 Uhr morgens die Zeit der „Lunge“. Bei Patienten mit einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) kommt es zwischen 0 und 8 Uhr etwa 3-mal häufiger zur Intubationspflicht als zu anderen Uhrzeiten.
Im Magen ist es am späten Abend und am frühen Morgen besonders sauer: Der pH-Wert ist zu diesen Zeiten besonders niedrig. Ösophagealer Reflux oder ein saurer Geschmack im Mund sowie Sternumschmerzen reißen viele Betroffene aus dem Schlaf. Doch es gibt Unterschiede: Der Gastroösophageale Reflux (GERD) plagt den „Tages-Typ“ am stärksten tagsüber und den „Nacht-Typ“ am meisten nachts. Beschwerden des Magengeschwürs sind besonders in der Zeit vom späten Abend bis zum frühen Morgen akut. Die Perforation eines Magengeschwürs findet einer Studie mit 2.856 Fällen zufolge hingegen am häufigsten zwischen 16 und 17 Uhr statt. Weitere typische Tageszeiten gastrointestinaler Erkrankungen:
Der meiste Urin wird während des Tages ausgeschieden, insbesondere am späten Nachmittag bzw. in den frühen Abendstunden. In der Nacht setzt die Neurohypophyse relativ viel Antidiuretisches Hormon (ADH) frei, sodass die Nieren nachts weniger Urin produzieren. Ab dem Alter von 40–45 Jahren flacht der bis dahin deutliche nächtliche ADH-Peak ab, sodass mehr und mehr Urin auch nachts produziert und ausgeschieden wird. Nierenkoliken treten meistens nachts auf – etwa in der mittleren bis späten Schlafspanne.
Auch verschiedene Schmerzen unterliegen einem 24-Stunden-Rhythmus. Zahnschmerzen aufgrund von Karies treten am häufigsten zwischen 3 und 7 Uhr morgens auf. Untere Rückenschmerzen und Ischialgien haben einen größeren Peak am späten Abend und einen kleineren Peak am Morgen. Fibromyalgie-Schmerzen treten besonders häufig morgens auf. Temporomandibuläre Schmerzen werden während des Tages schlimmer. Karpaltunnelschmerzen sind oft nachts ein Problem. Bei Schwangeren setzen die Wehen meistens zwischen 0 und 4 Uhr morgens ein.
Akutes Fieber mit Temperaturen > 37 °C setzt bei bakteriellen Infektionen mit hoher Wahrscheinlichkeit morgens zwischen 6 und 10 Uhr ein. Bei viralen Infekten beginnt das Fieber meistens zwischen 16 und 22 Uhr. In einer Studie zur Meningokokken-Meningitis mit 211 Betroffenen stellten sich die meisten Patienten nachmittags mit starken Symptomen in der Klinik vor. Der Tod bei einer Meningokokken-Meningitis trat bei der Hälfte der verstorbenen Patienten morgens zwischen 7 und 11 Uhr ein.
Entzündliche Erkrankungen, die vom zirkadianen Cortisol-Rhythmus abhängig sind, wie z. B. Allergien, infektiöse Rhinitis, Neurodermitis, Asthma und Urticaria verschlimmern sich dann, wenn der körpereigene Cortisolspiegel niedrig ist. Da die Cortisolwirkung immer etwas verzögert eintritt, ergeben sich hier bei Korrelationsbeobachtungen leichte Zeitverschiebungen. Der Schlaf der Patienten wird durch entzündungsbedingte Beschwerden häufig unterbrochen, sodass die Betroffenen am Tag besonders unkonzentriert und müde sind. Entzündliche Hauterkrankungen wie Ekzeme, Urticaria und Neurodermitis stören die Patienten meistens nachts. Auch am Abend ist der Juckreiz besonders stark. Schuppenflechte tritt auf oder exazerbiert meistens gegen Abend. Auch hier werden die Patienten regelmäßig aufgrund von Juckreiz wach bzw. sie verspüren starken Juckreiz, sobald sie wach sind.
Auch bei der Rheumatoiden Arthritis sind die Symptome zum Zeitpunkt relativ niedriger Cortisolkonzentrationen im Blut stark ausgeprägt und plagen die Betroffenen häufig zwischen 2 und 4 Uhr morgens. Hingegen leiden Patienten mit Arthrose besonders am Abend, nachdem die Gelenke tagsüber belastet wurden. Die Gicht wurde bereits von dem englischen Arzt Thomas Sydenham (1624–1698) und anderen bekannten Ärzten im 17. und 18. Jahrhundert genau beschrieben. Der scharfe Schmerz und die Rötung am großen Zeh, am Fußgelenk, Knie, Handgelenk oder Ellbogen werden nachts oft extrem stark.
Etwa 2 % der Kinder leiden unter zyklischem Erbrechen. Es ist gekennzeichnet durch Übelkeit und Erbrechen, das etwa 6–48 Stunden anhält, dann völlig verschwindet und nach einigen Wochen oder Monaten wieder auftritt. Das Erbrechen beginnt fast immer zwischen 4 und 8 Uhr morgens. Der plötzliche Kindstod (Sudden infant death syndrome, SIDS) tritt besonders häufig zwischen 6 und 12 Uhr auf, mit einem Peak zwischen 8 und 9 Uhr. Fieberkrämpfe bei Kindern treten 5-mal häufiger am Abend als am frühen Morgen auf.
Depressionen sind häufig durch das typische Morgentief oder durch morgendliches Früh-Erwachen gekennzeichnet. Bei der bipolaren Störung findet der Wechsel von der Depression zur Manie während des Tages statt. Suizidversuche werden meistens in der Zeit vom frühen Nachmittag bis zum frühen Abend durchgeführt, während vollendete Suizide sehr oft in der Zeit vom späten Morgen bis zum frühen Nachmittag vorkommen.
Die genaue Kenntnis der zirkadianen Rhythmen von Organen und Erkrankungen kann dazu beitragen, Erkrankungen rascher zu erkennen, Risiken besser einzuschätzen und Medikamente gezielter einzusetzen. Chronorisiko, Chronoprävention und Chronotherapie sind alte Themen, auf die man sich zurzeit in der Medizin wieder rückbesinnt und die sich wunderbar mit der modernen Medizin vereinen lassen. Bereits ein gesunder Schlaf-Wach-Rhythmus trägt dazu bei, die Gesundheit zu erhalten. Die International Dark Sky Association (IDA) setzt sich zum Beispiel dafür ein, dass es nachts in der Umgebung wieder dunkler wird und die Menschen dadurch wieder zu einem gesünderen Rhythmus zurückfinden. Originalpublikationen: Diurnal and twenty-four hour patterning of human diseases: Cardiac, vascular, and respiratory diseases, conditions, and syndromes [Paywall] Michael H. Smolenskya et al.; Sleep Medicine Reviews, doi: 10.1016/j.smrv.2014.07.001; 2015 Diurnal and twenty-four hour patterning of human diseases: acute and chronic common and uncommon medical conditions [Paywall] Michael H. Smolenskya et al.; Sleep Medicine Reviews, doi: 10.1016/j.smrv.2014.06.005; 2015