Ich sitze neben der gepackten Tasche, mein Mann wird mich in 15 Minuten abholen. Dann der Rückschlag: „Der Arztbrief ist aber noch gar nicht fertig!“
„Ach, Sie gehen ja heute. Der Arztbrief ist aber noch gar nicht fertig und das Arztzimmer ist nicht besetzt. Ich muss mal sehen, ob ich da noch jemanden finde, der das erledigen kann. Das kann aber etwas dauern.“
So oder ähnlich hat das schon jeder von uns gehört und jedes Mal stand uns allen die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Alles ist gepackt, die letzten Handgriffe und Formalien sind erledigt, die kleine Verabschiedung von der Bettnachbarin, dem Bettnachbarn ist absolviert, selbst dein Abholdienst wurde verständigt und gebucht, aber der Entlassungsbrief ist nicht fertig, der Arzt nicht in Sicht. Alles verzögert sich. Du kannst nicht gehen, du kommst nicht raus. Dein Puls steigt, die Unruhe auch.
Wie komplex dieses Thema ist, habe ich erst gemerkt, als mich einmal näher damit beschäftigt habe. Und da liegt wahrscheinlich auch der sprichwörtliche Hase im Pfeffer. Neben Patient und Arzt sind noch zwei andere Player in das Entlassungsschauspiel eingebunden. Nämlich die Schwestern oder die Krankenpfleger und die Abholer. Zur besseren Veranschaulichung gehen wir das Ganze mal Ebene für Ebene durch.
Grundtenor: „Super, jetzt darf ich alles wieder schieben und neu organisieren.“
Also schlüpfen wir mal gedanklich in den Schwesternkittel und stellen uns vor, wir haben die Verantwortung für die Station und für den reibungslosen Ablauf. Okay, was die Schwester innerlich formuliert hat, haben wir soeben gehört. Laut würde sie das natürlich im seltensten Falle sagen. Hüstel. Aber was bedeutet das genau?
Die neue Patientin ist bereits da und soll nach dem Aufnahmeprozedere samt Datenabgleich schnellstmöglich das Zimmer beziehen und sich am besten zeitgleich zu den ersten Untersuchungen begeben. Alles klar. Das Team, das die alten Nachttische und Betten gegen neue austauschen soll, ist bestellt und ist fein abgestimmt mit der Putzkolonne, die alles noch mal frisch durchwischt, vor allem im Bad. Kurzum: Das große Raus und Rein ist organisiert und wartet auf das berühmte grüne Licht.
Und dann: Stillstand. Ausgebremst. Standbild. Was ist geschehen? Die Patientin, die, die entlassen werden soll, steht auf einmal vor mir – der Schwester – und fragt nach dem Entlassungsbrief. Sie redet und redet und erzählt mir, dass gleich ihr Ehemann, die Freundin oder wahlweise das Taxi kommt, alles bestellt und organisiert ist, aber eben kein Arzt weit und breit, der ihr die Entlassungspapiere überreichen könnte, außerdem hätte sie da noch ein paar Fragen. Mein schön durchkomponierter Ablaufplan kommt ins Stocken. Enttäuschter Blick trifft genervten Blick.
Wenn ich ganz großes Glück habe, werde ich auf der Suche nach dem zuständigen Arzt auf dem Weg zum Arztzimmer auch noch von zwei, drei Angehörigen aufgehalten (also die von der Neuaufnahme), die mir – natürlich – ziemlich überflüssige Fragen stellen und an meinem Kittel rumzupfen. Na, super!
Für Entspannung könnte jetzt das Auffinden ebenjenes Arztes sorgen, der die erlösenden Worte spricht: „Ach, kein Problem, Schwester Nella, ich komme gleich. Es ist alles vorbereitet, wir hatten nur gerade einen Notfall. Es geht gleich los.“ Da kann ich nur sagen: Träum weiter, genau das passiert leider nicht.
Die Ärzte sind irgendwie unauffindbar. Daher muss jetzt die zweite wichtige Kernkompetenz jeder Krankenschwester mobilisiert werden: das Troubleshooting. Mit gleichbleibend niedrigem Puls und besänftigender Ausstrahlung, versteht sich. Einfach Wahnsinn! Das ist doch – mal wieder – einen Applaus wert.
Ich finde, das darf und das muss nicht sein. Warum ist das aber immer so, oder zumindest sehr oft so? Gott sei Dank sind die meisten Schwestern und Krankenpfleger sehr routiniert darin, diese Verzögerungen abzupuffern, da das gelebte Arbeitsrealität ist. Aber Vorsicht, auch die kommen manchmal wegen dieser vermeintlichen Kleinigkeit an ihre Grenzen und ganz schön ins Trudeln.
Grundtenor: „Klar, das Patienten-Taxi kommt um 11:15 Uhr, ich weiß.“
Ganz anders erlebt das – meist – der Arzt. Für ihn ist der Entlassungsbrief ein, sagen wir mal, notwendiges (lästiges) Übel und nicht gerade die Nummer eins auf der To-Do-Liste. Er rutscht daher sehr gerne mal nach hinten und verursacht dann eben unnötigen Stress, weil er leider unvermeidlich zum Entlassungsmanagement dazugehört und immer zur Unzeit hochpoppt.
Vieles von dem, was Ärzte leisten, bekommen auch wir Patienten natürlich nicht mit. Und manchmal – besser gesagt meistens – ereignen sich diese Dinge ohne Vorankündigung und platzen quasi in die Erstellung des Arztbriefes.
Das kann zum Beispiel eine überraschend angesetzte Besprechung mit dem Chefarzt sein oder ein dringendes Konsil wurde von einer anderen Station angefordert oder die Befunde zum Entlassungsbrief sind eben erst reingekommen und müssen noch besprochen werden, und, und, und. Eine Ärztin sagte mir einmal: „Ja, ich weiß, das Patienten-Taxi wartet um 11:15 Uhr. Da rolle ich innerlich schon die Augen nach oben. Wir haben auch andere (wichtigere) Dinge zu tun und manchmal gibt es Notfälle, um die wir uns kümmern müssen.“ Aus ihrer Sicht völlig richtig und nachvollziehbar.
Mancher Arzt denkt sich sicher auch: „Oh, Mensch, sollen die sich mal nicht so haben, es gibt Schlimmeres. Sollen die Patienten halt mal warten.“ Ja, klar gibt es Schlimmeres, ein wenig Verständnis wäre allerdings angebracht – zur Sicht des Patienten komme ich ja noch – vor allem aber ein besseres Management. Eigentlich ist es ja auch gar nicht so schwierig. Denn seien wir doch mal ehrlich, so überraschend kommt die Entlassung ja doch nicht, richtig? Auch das Überraschende ist nicht wirklich überraschend, da es fast immer so ist, dass etwas dazwischen kommt. Vor allem, wenn das Schreiben auf den letzten Drücker geschieht.
Und ein Entlassungsbrief ist ja eben ein – wenn auch sehr kleiner – Teil der Dokumentationsaufgaben eines Krankenhausarztes, manche behaupten sogar, es sei die Bibel für den übernehmenden (niedergelassenen) Arzt. Also so unwichtig ist er dann eben auch wieder nicht. Oder sagen wir es neutraler: Die Erstellung des Entlassungsbriefes gehört zur Job Description eines Klinikarztes.
Andererseits hilft es sicher, wenn wir Patienten schon von vornherein von einer dehnbaren Auslegung der Entlassungszeit ausgehen und nicht auf 11:15 Uhr beharren, einfach ein entspannteres Erwartungsmanagement praktizieren. Das könnte so aussehen: Auch wenn der zugesagte Termin nicht eingehalten wird, weiß ich eines sehr sicher, nämlich, dass ich spätestens heute Nachmittag wieder zu Hause bin. Vermeidet daher andersherum folgende unentspannte Denkweise: „Jetzt ist es schon 11:20 Uhr und niemand kommt. Na toll!“ Das bringt nix. Dadurch geht es auch nicht schneller. Und das zu vermeiden schont die Nerven aller Beteiligten.
Und an die Ärzte gerichtet: Vielleicht ist es möglich, auch schon etwas früher die einzelnen Bausteine für unser Ticket in die Freiheit vorzubereiten und einen Tag vorher zu schauen, dass das Schreiben in den Terminplan integriert wurde. Wenn Befunde noch nicht eingetrudelt sind, können die auch später nachgereicht werden. Die Patienten haben dafür alles Verständnis der Welt. Ich hatte und habe es zumindest.
Grundtenor: „Aber du hast doch gesagt, um 11:15 Uhr kommst du raus.“
Diese haben sich, wenn es privat organisierte Partner oder Freunde sind, auf die Uhrzeit eingestellt, die den Patienten kommuniziert wurden. Danach wurde der restliche Tag konzipiert und getaktet. Meist sehen unsere Abholer diesen Zeitkorridor als verbindlich an.
Ich weiß nicht, wie oft ich dadurch schon gleich den ersten Streit mit meinem Mann hatte, der als Selbstständiger seine Termine immer so gelegt hatte, dass alles nahtlos – natürlich immer auch mit etwas Puffer –ineinandergriff. Es gab nicht eine Situation, die tatsächlich cremig lief und die besprochene Zeit eingehalten wurde. Irgendetwas kam immer dazwischen. Immerhin konnte mein Mann sich diese Zeiten freischaufeln, aber oft genug hat es ihm seinen gesamten Ablauf zerschossen. Dazu kamen innerfamiliäre Abläufe, die ebenfalls ins Rutschen kamen, ganz zu schweigen von der Enttäuschung der Kinder.
Die Abholer sollten sich besser den ganzen Tag nicht viel anderes vornehmen. Wenn das aber grundsätzlich unmöglich ist, das auch ehrlich und offen kommunizieren. Dabei ist es hilfreich, wenn beide Seiten ehrlich und verständnisvoll sind: Wenn es nicht geht, geht es nicht. Man tut sich einfach überhaupt keinen Gefallen damit, auf Krampf irgendetwas zu arrangieren, was so nicht funktionieren kann und wird.
Besser gleich den Krankentransport organisieren. Die Transportleute sind Kummer gewohnt, Verzögerungen sind Alltag, weil branchenimmanent.
Grundtenor: „Ich bleibe keine Minute länger hier als besprochen.“
Zum guten Schluss gibt es noch unsere Perspektive, die Perspektive der Patienten. Wir haben uns schon lange – oder hoffentlich nicht ganz so lange – auf diesen Termin gefreut. Endlich wieder raus. Ich würde behaupten, dass die am meisten gestellte Frage der Patienten die nach dem Entlassungstermin ist. Spätestens am zweiten Tag kommt sie, die „Wann-komme-ich-wieder-raus“-Frage, da bin ich mir sicher.
Dazu kommt: Patienten sind meist nicht mit Krankenhäusern vertraut und nicht sehr gerne dort, wo sie gerade sind. Dagegen ist das Krankenhaus die Arbeitswelt für Ärzte und damit frei gewählt. Das allein prägt schon die Sichtweise auf die Entlassungsproblematik. Jede Minute, die man länger auf die Entlassung wartet, ist meist eine Minute zu viel. Das kenne ich nur zu gut. Diese Einstellung tut aber nicht gut.
Besser ist es, man preist vorher schon ein, dass es länger dauern kann (s. o. bei den Abholern). Damit geht es dir einfach besser.
Und ganz wichtig: Du kannst dir den Entlassungsbrief auch einfach nach Hause schicken lassen, entweder per Mail oder per Post. Das ist sicher die entspannendste Nachricht für alle.
Dieser Beitrag gehört zu dem Blog „Zellenkarussell. Mit der Krankheit dreht sich das Leben plötzlich schneller“.
Bildquelle: Saketh Garuda/Unsplash