Anorexia nervosa lässt sich bislang nicht medikamentös behandeln. Ein Team aus Psychiatern hat einen Therapieansatz mit dem Hormon Leptin gefunden.
Unter allen psychischen Erkrankungen ist Anorexia nervosa (AN) diejenige mit der höchsten Mortalitätsrate. AN-Betroffene haben ein 10-fach erhöhtes Sterberisiko im Vergleich zu gesunden Altersgenossen. Dabei sterben viele Patienten an medizinischen Komplikationen infolge des Verhungerns; jeder fünfte Patient stirbt durch Suizid.
Bislang wird Anorexia nervosa primär psychotherapeutisch behandelt, eigens zugelassene Medikamente gibt es nicht. Zusätzliche Therapien sind also dringend notwendig. Ein Team aus deutschen und Schweizer Psychiatern konzentriert sich dabei jetzt auf die Wirkung des Hormons Leptin. Ihre Arbeit ist in Translational Psychiatry erschienen.
Das Proteohormon Leptin ist ein wichtiger Regulator bei der Anpassung des Körpers an den Hungerzustand; es ist aber auch an der Regulation von Schlaf, Kognition und motorischer Aktivität beteiligt. Fällt der Leptin-Spiegel im Blut ab, werden zahlreiche körperliche Funktionen auf Sparflamme gesetzt.
Gleichzeitig erhöht ein niedriger Leptin-Spiegel die körperliche Aktivität – eine typische Begleiterscheinung von Anorexia nervosa. In fortgeschrittenem Stadium beobachtet man, dass AN-Patienten besonders aktiv sind, obwohl sie schon sichtlich ausgezehrt sind. Dieser Bewegungsdrang rührt vermutlich nicht daher, dass sich Betroffene mehr bewegen wollen, um nicht zuzunehmen. Vielmehr scheint ein unfreiwilliger Mechanismus dahinter zu stecken.
Forscher vermuten, dass das ein evolutionäres Erbe ist: Unsere Vorfahren sollten in extremen Hungersituationen nicht in Lethargie verfallen, sondern sich schnellstens wieder der Nahrungssuche widmen. So jedenfalls die Theorie, belegen lässt sich das nicht.
Allerdings gibt es inzwischen Hinweise auf die besondere Rolle des Leptins bei AN. „Schon vor 20 Jahren konnten wir im Tierversuch zeigen, dass eine durch Hunger ausgelöste Hyperaktivität durch Gabe von Leptin gestoppt werden kann“, erklärt Prof. Johannes Hebebrand. Er ist ärztlicher Leiter der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am LVR-Klinikum in Essen und Autor der Leptin-Studie.
Aber erst 2018 wurde das in der kleinen Studie eingesetzte Medikament Metreleptin für die Behandlung einer seltenen Stoffwechselstörung zugelassen, was eine Off-label-Verschreibung für einen ersten experimentellen Einsatz bei Patienten möglich machte. Daraufhin haben die Wissenschaftler gemeinsam mit Schweizer Kollegen erstmals drei Patientinnen mit Leptin behandelt.
Alle drei Patientinnen waren wegen einer schweren, lebensbedrohlichen AN in stationärer Behandlung. Patientin A war 26 Jahre alt und wog bei einer Körpergröße von 162 cm 30 kg (BMI 11,4). Patientin B war 19 Jahre alt und wog 36 kg bei einer Größe von 164 cm (BMI 13,4). Für diese Frau kam wegen therapierefraktärer AN bereits ein Aufenthalt auf der Palliativ-Station in Frage. Patientin C war 17 Jahre alt, 166 cm groß und wog 32 kg (BMI 11,6). Diese Patientin war vor ihrer AN-Erkrankung stark übergewichtig: 3 Jahre zuvor wog sie noch 96 kg (BMI 35,2).
Typisch für AN-Patienten litten alle drei an zwanghaften Gedanken ans Essen, gestörter Körperwahrnehmung (sich dick fühlen trotz starkem Untergewicht), Depression, innerer Rastlosigkeit und gesteigertem Bewegungsdrang. Letzteres wurde von allen drei Probandinnen als besonders belastend empfunden.
Einmal täglich erhielten die Frauen eine Dosis Metreleptin subkutan verabreicht. Wegen Sicherheitsbedenken wurden die Dosen nur langsam gesteigert. Patientin A erhielt den Wirkstoff 9 Tage lang (Höchstdosis 10 mg). Patientin B erhielt ihn über 14 Tage mit einer Höchstdosis von 11,3 mg, und Patientin C erhielt Metreleptin über 6 Tage (Höchstdosis 9 mg).
Innerhalb von drei Tagen besserte sich die Depression bei allen drei Patientinnen deutlich. Sie konnten sich besser konzentrieren, ihr Bewegungsdrang verringerte sich, sie entwickelten wieder Interesse an ihrer Umwelt und nahmen vermehrt sozialen Kontakt auf. Sogar essstörungsspezifische Denkweisen wurden abgeschwächt. „Ich habe das Gefühl, Urlaub von meiner Essstörung zu haben“, sagte eine Patientin.
Einen anderen Ansatz verfolgen Neurochirurgen in einer Pilotstudie. Darin testeten sie tiefe Hirnstimulation an sechs Patientinnen, die an schwerer, therapierefraktärer AN litten. Zumindest bei der Hälfte der Patienten konnte die Implantation eines beidseitigen Gehirnstimulators in den Gyrus subcallosus helfen: Neun Monate nach der Operation hatten 3 der 6 Patientinnen so viel an Gewicht zugenommen, wie noch nie zuvor im Verlauf ihrer Krankheit. Bei 4 von 6 Patientinnen verbesserte sich der psychische Zustand deutlich.
Auch wenn beide Ansätze vielversprechend erscheinen, handelt es sich um experimentelle Ansätze und Studien mit geringer Probandenanzahl. Von einer therapeutischen Anwendung ist man also noch weit entfernt. Das betont auch Prof. Hebebrand: „Bevor jedoch eine breite Anwendung des Medikaments erwogen wird, müssen die Ergebnisse in kontrollierten Studien abgesichert werden“.
Bildquelle: Binnie Kittle/Unsplash