Die Kommerzialisierung des Gesundheitssystems führt in die falsche Richtung, sagen die Mitglieder des Vereins Twankenhaus. Sie haben Vorschläge, wie es besser laufen könnte. Was ist davon zu halten?
Das Twankenhaus (Kofferwort aus Twitter und Krankenhaus) entstand als Online-Gruppe junger Ärzte, Studenten und Pfleger, die sich das ideale Krankenhaus ausmalten. Inzwischen ist daraus ein eingetragener Verein geworden, der sich für Verbesserungen im deutschen Gesundheitswesen einsetzt.
In einem aktuellen Thesenpapier kritisiert der Verein die Ökonomisierung des Gesundheitssystems. Wir haben mit Katharina Thiede, Fachärztin für Allgemeinmedizin und beim Twankenhaus zuständig für Pressearbeit, über sieben Problemzonen deutscher Krankenhäuser gesprochen.
Problem 1: Patient als Geldquelle
Lena Meyer: In eurem Thesenpapier sprecht ihr vom Spannungsfeld ökonomischer Zwänge und patientenorientierter Medizin. Wo fällt euch das im Arbeitsalltag besonders auf?
Katharina Thiede: Der stationäre Sektor steht hier besonders im Vordergrund, auch wenn die negativen Folgen der Kommerzialisierung das gesamte Gesundheitswesen betreffen. Es geht schon bei den einfachen Anliegen der Patienten los: Sie kommen ins Krankenhaus, haben mehrere medinische Fragestellungen, die geklärt werden müssen, also die zum stationären Aufenthalt führende Diagnose und weitere gesundheitliche Probleme. Und die verschiedenen Fachdisziplinen können nicht unkompliziert zusammenarbeiten, weil zum Beispiel nur eine Klinik die Erlöse der Fallpauschale bekommt, oder weil die Behandlung in der Dauer durch die wirtschaftlichen Zwänge begrenzt ist. Sogar die Notwendigkeit eines stationären Aufenthalt an sich zu klären, kann schon eine Herausforderung sein.
Im ambulanten Sektor wiederum kämpfen wir mit langen Wartezeiten und komplizierten Wegen. Da wird zwar politisch schon gegengesteuert, aber diese strenge Trennung der Sektoren macht es für uns und für unsere Patienten schwierig. In der Retrospektive nach einer Behandlung denkt man häufig: Vieles hätte einfach viel schneller laufen können, wenn zum Beispiel die Kommunikation anders wäre. Die Wege im Gesundheitswesen sind zu kompliziert.
Problem 2: Kommunikation und Zeitdruck
Also Schwierigkeiten in den Absprachen einerseits und komplizierte, lange Wege andererseits. Woran hakt es da?
Die Überwindung der Sektoren ist kompliziert. Behandlungen finden nicht dort statt, wo der einfachste Zugang und die beste Qualität verortet ist, sondern die Sektorengrenzen müssen eingehalten werden. Zusätzlich führt gerade im Krankenhaus die Ökonomisierung der Arbeit zu Mangel an allen Ecken, die Berufsgruppen werden ausgedünnt. Also muss man überall mal aushelfen, weil die Kollegen fehlen. Und was auch fehlt, ist die Zeit – die Patienten beschweren sich oft, dass sich keiner genug Zeit nimmt. Andererseits haben einige von ihnen fast schon ein schlechtes Gewissen, wenn sie mit einem komplizierten Krankheitsbild bei uns sind. Und das darf einfach nicht sein, ein chronisch kranker Mensch, der auch noch mit schlechtem Gewissen durchs Gesundheitssystem wandert. Wir sind doch eigentlich hier, um zu helfen.
Was wir leider auch erleben, ist die umgekehrte Situation, also Kollegen aus medizinischen Berufen, die krank werden, weil sie täglich mit diesem Druck zu kämpfen haben. Denn sie sehen immer wieder, wie die Arbeit mit etwas mehr Zeit, mit ein paar mehr Kollegen besser laufen könnte, wie man mehr Patienten helfen könnte. Besonders problematisch ist die Situation in den Pflegeberufen. Aber das Arbeiten im Krankenhaus ist auch für andere Berufszweige im medizinischen Sektor schwierig, weil die Häuser immer mehr outsourcen. Das betrifft zum Beispiel Reinigungsfirmen oder Küchendienste. In diesen Tochtergesellschaften gelten dann zum Teil auch andere, oft prekärere Verträge.
Problem 3: Personal und Kommerz
Den Personalmangel seht ihr als großen Teil des Grundproblems Kommerzialisierung. Aber bringt eine Kommerzialisierung im klassischen Sinne nicht Wachstum einer Branche, Sicherheit von Gehalt und Arbeitsplätzen mit sich?
Wie diese Annahme entsteht, weiß ich auch nicht, das ist eine ganz merkwürdige Diskussion, die da immer geführt wird. Das Gesundheitswesen finanziert sich sehr überwiegend aus Beiträgen der Solidargemeinschaft. Diese Geldmenge ist begrenzt. Die Einrichtungen des Gesundheitswesens können nicht, wie beispielsweise Apple, beschließen, jedes Jahr ein neues Produkt auf den Markt zu werfen, um damit neue „Kunden“ zu gewinnen. Krankheit entsteht – glücklicherweise – nicht durch Marktanreize.
Wo sollen diese Gewinne auch herkommen? Die Vergütung ist geregelt, unter anderem über Fallpauschalen und die diagnosebezogenen Fallgruppen (Anm. d. Red.: DRG). Gewinne entstehen also, im Krankenhaus wie im ambulanten Sektor, durch immer mehr Patienten in immer weniger Zeit – oder, indem man Personal einspart. Es gibt also in dem Sinne keinen positiven Wettbewerb, Gewinnmargen entstehen ausschließlich über Einsparungen, sei es an Zeit oder Personal. Diese Ausschüttung von Renditen aus dem Gesundheitswesen muss beendet werden. Mit Mitteln der Solidargemeinschaft werden Renditen erwirtschaftet und ausgezahlt, da besteht für uns eindeutig Nachregelungsbedarf. Es geht hier um indizierte Therapien, die von uns allen finanziert werden und die Erlöse daraus fließen in Renditen ab, das geht nicht. Das Gesundheitswesen ist schließlich elementarer Bestandteil der Daseinsvorsorge.
Aber wir brauchen grundsätzlich gar nicht mehr Geld, wir leisten uns schon ein teures Gesundheitswesen.
Problem 4: Arztberuf im Wandel
Wenn mehr Geld also gar nicht euer erstes Anliegen ist, was erhofft ihr euch dann für Veränderungen?
Zum einen muss man sich fragen: Was möchte ich vom Beruf? Also z. B. Zeit für Patienten, kollegialen Austausch, fachliche Weiterbildung und interprofessionelles Zusammenarbeiten. Wichtig ist aber auch eine bessere Patientenschulung und Gesundheitsbildung, es gibt in Deutschland immer noch zu wenig Prävention. Nachhaltigkeit ist inzwischen auch ein wichtiges Thema. Billige Einmalprodukte sind zwar weniger aufwändig in der Prüfung und Zertifizierung, die Marge wird hier über die Masse gemacht. In Zeiten der Klimakrise ist das aber nicht in Ordnung. Diese Aspekte müssen alle betrachtet werden.
Zum anderen geht es um den Patienten. Man muss sagen: Patienten geht es im aktuellen Gesundheitswesen nicht besonders gut. Der Zugang zu Informationen hat sich mit dem Internet komplett geändert, viele Patienten nutzen diesen. Der Arztberuf muss sich daher ebenfalls verändern und hat sich oft auch schon angepasst. Es ist nicht mehr ein Bereitstellen von Informationen, sondern ein Bewerten im Einzelfall und auch ein Bewerten von Infos, die der Patient schon hat. Dadurch ändert sich aber natürlich auch die Beziehung zwischen Behandler und Patient. Was brauchen die Patienten also? An vielen Stellen liegt die Antwort in mehr Zeit, also auch in mehr Personal.
Problem 5: Kosten und Nutzen
Also doch mehr Geld, mehr Investitionen in Personal und Patientenaufklärung?
Nicht unbedingt, denn umgekehrt geht es an einigen Stellen auch mit weniger. Da muss man prüfen, wie man die Ressourcen, die wir aufbringen wollen, so fair einsetzen kann, dass es insgesamt klappt. Wie viel bringen zum Beispiel bestimmte diagnostische, interventionelle und operative Verfahren für die Gesundheit und Lebensqualität der Patienten? Und wie steht das im Verhältnis zu einem besseren Pflegeschlüssel oder schlicht mehr Zeit? Das sind ökonomische Fragen, die da beleuchtet werden müssen. Beispielsweise ist das Vorhalten von MRT-Geräten nötig und sinnvoll, obwohl es viel kostet, keine Frage. Aber wenn man mehr Zeit für Anamnese, Untersuchungen und Kontakt mit anderen Berufsgruppen hat, braucht es eine bestimmte Diagnostik vielleicht auch gar nicht. Alles lässt sich mit so einer Umverteilung natürlich nicht regeln. Es kann durchaus sein, dass man bei der Analyse der Situation zu dem Schluss kommt, dass an einigen Stellen eben doch mehr ausgegeben werden muss.
Hier kommen auch problematische Aspekte der Qualitätssicherung mit ins Spiel, da werden einige falsche Anreize gesetzt. Ein Beispiel sind die Mindestmengen. Nur eine Abteilung, die viele Eingriffe einer bestimmten Art gemacht hat, darf diese durchführen. Das ist einerseits sinnvoll, weil viel Routine und Übung natürlich helfen, die Komplikationen gering zu halten. Das ist aber auch ein Anreiz, möglichst viele davon durchzuführen. Es sind die berühmten zwei Seiten der Medaille: Natürlich haben die Kollegen dann viel Erfahrung, aber bei einigen Patienten war es eventuell gar nicht so nötig. Und wenn es später dann aufgrund von engen Zeitvorgaben ebenfalls im Zeichen der Qualitätssicherung auch nicht der Erfahrenste der Abteilung macht, sondern jemand, der gerade im Dienst ist, wird das System ad absurdum geführt.
Problem 6: Aufgaben der Politik
Was sollte die Gesundheitspolitik tun, wenn solche Anreize auch nach hinten losgehen können?
Das Big Picture betrachten. Was ist das Ziel des Gesundheitswesens, was wollen wir erreichen? Diese Fragen werden zu selten gestellt. Inzwischen ist das System so kompliziert, auch durch diverse Zuständigkeiten auf verschiedenen Regierungsebenen, dass am Ende immer Einzelpakete geschnürt werden, in der Hoffnung, dass sich durch das Stopfen dieser Löcher ein gutes Ganzes ergibt. Das ist nicht optimistisch, sondern naiv.
Die Politik sollte sich nicht fragen, welche Folgen ein Gesetz für das Gesundheitswesen hat, sondern genau umgekehrt denken: Wenn wir ein Gesundheitssystem haben, was diese und jene Erwartungen erfüllt, dann brauchen wir welche Vorgaben dafür? Das ist dann der Punkt, an dem man mit Juristen, BWLern und weiteren Leuten draufschaut. Im Moment ist es eher so, dass immer mal wieder gesagt wird: „Ich hab da eine Idee, mal gucken, ob’s was bringt.“
Problem 7: Wahrnehmung der Medizin
Also ein Umdenken in der Planung?
Genau, wir brauchen einen gesellschaftlichen Diskurs darüber, wie Medizin funktioniert. Die Annahme, dass besorgte Patienten eine ausführliche Diagnostik brauchen, um das sichere Gefühl zu haben, gesund zu sein, führt zur Überversorgung. Das sehen wir zu wenig kritisch, das führt nicht einfach zu mehr Einnahmen im Gesundheitswesen, sondern in erster Linie zu einer Belastung der Patienten. Ein harmloser Zufallsbefund, der dann noch dreimal nachkontrolliert werden muss, zum Beispiel. Es kann schwer sein, auf Ergebnisse zu warten, die Unsicherheit aushalten zu müssen. Im schlimmsten Fall ist das mit Angstzuständen, seelischen Problemen und Arbeitsausfällen verbunden. Eine Untersuchung nicht zu machen ist oftmals viel zeitaufwändiger als sie durchzuführen, weil es intensivere Beratung und Begleitung der Patienten braucht.
Auch wenn Häuser klein sind, darf das keinen Automatismus begründen, Standorte zu schließen. Es sollte nicht zählen, was wirtschaftlich rentabel, sondern was strukturell geboten ist. Dass man bestimmte Abteilungen und Geräte vorhalten muss, darüber wird zu wenig gesprochen. Das zum Beispiel Kinderkliniken an vielen Standorten geschlossen werden, weil sie nicht wirtschaftlich sind, das zeigt doch, dass mit dem gegenwärtigen System keine marktwirtschaftliche Steuerung hin zu einer bedarfsgerechten Versorgung möglich ist.
Du hast sehr viele Missstände aufgezählt und beschrieben. Was ist aktuell das Wichtigste für euch?
Das Wichtigste ist für uns, dass sich die Diskussionsrichtung ändert. Wie soll unser Gesundheitssystem ausschauen und was brauchen wir dafür? Dabei geht es gar nicht allein um den medizinischen Sektor, sondern im weitesten Sinne darum, was uns Care-Arbeit – also zum Beispiel auch in Altenheimen oder Kitas – wert ist. Unsere Gesellschaft bringt Menschen mit hoher Budgetverantwortung viel finanzielle Wertschätzung entgegen, aber Menschen in Care-Berufen deutlich weniger. Gerade in Aspekten der Daseinsvorsorge sollte die gesamtgesellschaftliche Frage immer sein: Wie weit wollen wir diese Schere aufgehen lassen?
Die Begeisterung der Aktionäre, dass man Rendite im Gesundheitswesen erzielen kann in allen Ehren, aber man muss sich vielleicht auch grundsätzlich einmal fragen, wo diese Erwartungen an Renditensteigerungen, an Effizienz, an Gewinnmaximierung auf lange Sicht hinführen. Wir stehen gerade am Scheideweg zwischen den Optionen – entweder, wir leiten einen Wandel ein, oder wir werden einem Wandel unterworfen. Deswegen müssen wir aufhören, im Kleinklein zu denken und uns den großen Zielen zuwenden, die wir dann auf einzelne Bereiche der Gesellschaft, wie das Gesundheitssystem, runterbrechen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Bildquelle: Samuel Scalzo, Unsplash