TEIL 5 | Die Welt wird immer süßer und das ist nicht positiv gemeint: Immer mehr Menschen entwickeln Diabetes oder Adipositas. Sieben Zucker-Baustellen und mögliche Lösungen, darum geht es im letzten Teil der Zuckerserie.
„Wir verlernen, die Süße richtig einzuschätzen“, sagt Diabetesberaterin und Ökotrophologin Dr. Astrid Tombek von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Woran liegt es, dass unser Umgang mit Zucker so exzessiv ist und was kann man dagegen tun?
Darüber haben wir mit ihr und Dr. Stefan Kabisch gesprochen. Er ist Studienarzt an der Klinik für Endokrinologie, Stoffwechsel- und Ernährungsmedizin der Charité Berlin. Sechs Faktoren haben sich im Zuge der Gespräche herauskristallisiert.
Ob man nun zu raffiniertem Haushaltszucker aus Zuckerrüben greift oder zu Agavensirup, Honig oder Kokosblütenzucker – wichtig ist, dass man nicht zuviel konsumiert. Und da fängt es an, schwierig zu werden.
Denn: Zucker ist in so viel mehr Nahrungsmitteln enthalten als nur in Süßigkeiten. Man spricht hier vom versteckten Zucker, mit dem industriell hergestellte Nahrungsmittel angereichert werden. Einige Beispiele für Lebensmittel, die nicht als süß wahrgenommen werden, aber dennoch hohe Mengen an Zucker enthalten, sind Ketchup, Senf oder Essiggurken. Hinzu kommt: Die wenigsten Menschen können eine Grammmenge oder sonstige Richtwerte nennen, wenn es um die Tagesmenge geht, die man optimalerweise zu sich nehmen sollte.
Laut DGE-Leitlinien sollte man pro Tag nicht mehr als 50 Gramm Zucker zu sich nehmen. Die WHO gibt als Grenzwert 25 Gramm „freien Zucker“ an. Um hier Missverständnissen vorzubeugen: „Die WHO hat zwei Empfehlungen, deren einzige medizinische Begründung ist Kariesprävention, nicht Stoffwechselschutz“, wie Kabisch erklärt. Diese Empfehlungen sehen aus wie folgt.
Kabisch erklärt: „Freier Zucker ist nur der Zucker in verarbeiteten Lebensmitteln, Honig, Sirup und Fruchtsäften. Zucker in Obst und Gemüse ist ausdrücklich nicht gemeint, obwohl es Zucker ist.“
Das Bewusstsein dafür, wie viel Zucker man eigentlich täglich zu sich nimmt und ab wann man die erwähnten Grenzwerte überschreitet, fehlt vielen Menschen. „Die Menschen haben ein Problem mit Mengen. Nehmen wir das Thema Obst her. Zwei Portionen Obst sind völlig in Ordnung. Doch Smoothies und Säfte sorgen zum Beispiel für eine verzerrte Wahrnehmung. Kein Mensch würde 10 Äpfel essen, aber 10 Orangen im Saft schon. Das ist nicht wenig“, erklärt Tombek. Eine mittelgroße Orange wiegt um die 130 Gramm, das entspricht etwa 10 Gramm Zucker. Multipliziert mal 10 kommt man dementsprechend auf 100 Gramm Zucker. Bei Obst gibt die Ökotrophologin deshalb als grobe Faustregel für eine Portion die eigene Handgröße an.
Doch selbst mit der Zahl 50 beziehungsweise 25 können die meisten womöglich wenig anfangen. Bis zum Grenzwert – und noch viel weiter. Das beschreibt unser Konsumverhalten ziemlich gut. Denn obwohl die zweistelligen Angaben erstmal viel wirken, schafft es nur ein kleiner Teil von uns, sich dementsprechend zu ernähren, vermutet die Expertin. „Ich lebe größtenteils zuckerfrei. Wenn überhaupt, esse ich mal ein Stück Schokolade. Und selbst ich komme auf etwa 20 Gramm Zucker pro Tag.“
Wie schwer es ist, den Grenzwert nicht zu überschreiten, wird deutlich, wenn man sich die Nährwerte von Getränken oder Snacks ansieht: Schon eine kleine Dose Cola (250 ml) enthält 27 Gramm Zucker. Mit einer kleinen Tafel Milchschokolade (100 g) hat man den Maximalwert bereits überschritten, sie kommt auf 56 Gramm Zucker. Nicht nur für Diabetiker ist dieses Wissen von Bedeutung, auch Patienten mit Übergewicht profitieren von einem aufklärenden Gespräch mit ihrem behandelnden Arzt.
Machen wir weiter mit einem Zuckerlieferanten, der mit Abstand den besten Ruf in der Gesellschaft genießt: dem Obst. Dass auch der Verzehr von Obst seine bekömmlichen Grenzen hat, wissen wir aus Teil 1 der Zuckerserie. Doch generell befindet sich Obst im Wandel: Eine Entwicklung, die Tombek und viele anderen Experten sehr problematisch finden, ist der über die Jahrzehnte gestiegene Zuckeranteil in Früchten. „Wir beobachten schon lange, dass viele Obstsorten extrem nach oben gezüchtet sind, was den Zucker betrifft. Es wird immer süßer und süßer. Alte Sorten enthielten nicht nur weniger Zucker, sondern auch deutlich mehr der gesunden sekundären Pflanzenstoffe“.
Die Rechnung der Züchter lautet hier also: Mehr Glukose und dadurch weniger Stärke und Ballaststoffe. Das bedeutet mehr Hunger. „Bei Menschen, die zu schnell resorbierbaren Zucker essen, gehen die Zuckerwerte im Zickzack rauf und runter. Die Folgen sind Hunger, häufig auch Konzentrationsmangel“, so Tombek. „Insulin ist ein Sättigungshormon. Dennoch hat man kurz nach einer Zuckermahlzeit wieder schnell wieder Appetit. Der kommt von der leichten Unterzuckerung als Reaktion auf den radikalen Insulinimpuls, nicht vom Insulin selbst“, wie Kabisch ergänzend erklärt.
Viele Patienten, aber auch Mediziner haben Wissensdefizite, wenn es um den Zucker geht. Es ist auch nicht so einfach. „Wir hatten schon den Low-Fat-Trend, als Fett ganz böse war. Dann war plötzlich Low-Carb das einzig Wahre.“ Die Studienlage sei im Ernährungsbereich nicht sonderlich gut und schwer durchschaubar, so Tombek.
„Diabetes und Ernährung werden im Humanmedizin-Studium nur gestreift. Zwar gäbe es die Option Ernährungsmedizin als Zusatzausbildung. Aber die Frage ist: Muss ich z. B. als Hausarzt alles selber können oder reicht es, wenn ich weiß, wer's kann?“ Die Ökotrophologin sieht eher ein noch nicht gänzlich ausgeschöpftes Potenzial, wenn es um Überweisungen an weitere Stellen geht. „Hausärzte müssen schon so viel können. Verstauchter Knöchel, Stoffwechsel, Husten. Es wäre zu viel verlangt, wenn Hausärzte sich auf jedem Gebiet zusätzlich fortbilden müssten. Vielmehr wäre es wichtig, dass die Anzeichen erkannt werden und dann eine Überweisung stattfindet an entsprechende Fachleute. Doch der übliche Weg ist folgendermaßen: Erst landet der übergewichtige Patient beim Hausarzt, als nächstes beim Diabetologen und dann erst in der Klinik bei mir – wenn überhaupt.“
Für welche Probleme der Zucker in hohen Teilen mitverantwortlich ist, wissen wir alle. Übergewicht und Diabetes gehören zu den offensichtlichsten Baustellen. Betritt ein übergewichtiger Patient mit verstauchtem Knöchel zum ersten Mal die Praxis, liegen zwei gesundheitliche Probleme vor: der Knöchel und das Übergewicht. „Im Idealfall würde ein Hausarzt auch das Übergewicht ansprechen und Hilfe anbieten. Der Hinweis ‚Achtung, Sie sind da in einer Risikogruppe‘ wäre schon wichtig“, findet Tombek. „Die Kassen zahlen Ernährungsberatung.“
Vor allem Allgemeinärzte, Gynäkologen, aber auch Zahnärzte seien hier besonders häufig in Kontakt mit Betroffenen und hätten somit die Gelegenheit, Risiken anzusprechen.
Noch besser wäre es allerdings, schon viel früher anzusetzen, wie die Expertin betont. Seitens Medizinern wäre viel weniger Erklärungsarbeit zu verrichten, wenn die Bevölkerung besser über Zucker und Ernährung im Allgemeinen Bescheid wüsste. „Ernährungsbildung gehört bereits in den Kindergarten“, fordert Tombek.
Das Suchtpotenzial von Zucker hält sie für enorm. „Man kann von der Süße nicht genug bekommen und eine Spirale entsteht, die man aufhalten oder am besten gar nicht erst entstehen lassen sollte.“
In der Schule solle es mit Ernährungsunterricht weitergehen, wenn es nach Tombek ginge. Dass durchdachte Maßnahmen einen Effekt haben können, beschreibt sie am Beispiel eines Projekts, an dem sie teilgenommen hat: Zwei Jahre wurde eine Schule von einem Expertenteam begleitet und über Ernährung aufgeklärt. Durch die Intervention änderte sich das Bewusstsein für Ernährung merklich. „Kinder haben zu Hause zu den Eltern gesagt, dass sie nun zum Frühstück keine gezuckerten Cerealien mehr möchten“, erinnert sich Tombek. „Es bedarf ausreichend Bewegung an der Schule. Auch Kochen, also zu lernen, was man mit Gemüse dann in der Küche macht, gehört dazu. Keine Limos oder Kuchen am Schulkiosk, sondern Essen, das schmeckt und zugleich ausgewogen ist – das alles ist längst überfällig.“
Zucker ist billig und gut zu verarbeiten, weshalb sich die Ambitionen, den Zuckergehalt in Produkten zu reduzieren oder auf Alternativen umzusteigen, seitens der Lebensmittelindustrie in Grenzen halten. Dennoch wird das wachsende Interesse daran, weniger Zucker zu sich zu nehmen, erkannt und darauf reagiert. „Man liest dann solche Aufschriften wie ‚Zucker aus der Frucht‘ oder ‚ohne Zuckerzusatz‘“.
Ein perfektes Beispiel sind Obst-Quetschies: Fruchtmus im Quetschbeutel, das es oft an der Supermarktkasse zu kaufen gibt. Auch hier findet sich häufig die Angabe „ohne Zuckerzusatz“. In vielen Fällen wird hier allerdings zusätzlich zum im Obst enthaltenen Zucker noch mit Fruchtmark oder Fruchtsaftkonzentraten gearbeitet. „Durch den Entzug von Wasser wird der Saft konzentriert – und dadurch eben sehr süß. Besonders eignen sich hierfür Apfel- oder Traubensaft. Das Ergebnis: In einem Quetschie (100 g) stecken rund 12 Gramm Zucker, also umgerechnet vier Zuckerwürfel“, fasst eine Expertin in einem Gespräch mit Foodwatch zusammen.
Ein Spiel mit der Sprache ist hier seit längerem zu beobachten. Im Jahr 2010 beschloss der Bundesrat, die Diätverordnung anzupassen – die Produktion von Lebensmitteln mit Hinweis „Für Diabetiker geeignet“ wurde eingestellt. „Doch das Marketing ist gefinkelt“, weiß Tombek. „Es gibt Hersteller, die den Diabetikerbund fördern und das samt Label des Bunds auf ihren Produkten erwähnen. Wer als Konsument nicht genau nachliest, könnten so auf die Idee kommen, dass der Diabetikerbund das Produkt fördere.“
Außerdem wünscht sie sich mehr Bewegung in der Politik, in Form von Präventionsmaßnahmen und Aufklärungskampagnen sowie gesetzlichen Regelungen wie Zucker-, Fett-, und Salzsteuer.
„Klar kann man darüber streiten, ob eine Zuckersteuer der Königsweg ist. Doch fragt man sich schon, warum in anderen Ländern wie etwa dem Vereinigten Königreich die Cola nur 7 oder 8 Gramm Glukose enthält und bei uns 12“, sagt Tombek. Auch das Vorgehen von Ernährungsministerin Julia Klöckner findet sie problematisch. „Die Rübenbauern werden stark geschützt. Dann heißt es, Rübenzucker ist ein Naturprodukt aus heimischer Landwirtschaft.“ Besonders kritisch sieht die Expertin die Kategorie Kinderlebensmittel. Dazu gehören unter anderem Kinderjoghurts, die in der Regel noch süßer sind als die gewöhnlichen. „Wir züchten uns damit ein Zukunftsproblem. Der Gesetzgeber tut hier zu wenig und die meisten Eltern sind nicht aufgeklärt genug“, erklärt Tombek das Problem.
Tatsächlich handelt es sich in den meisten Fällen nicht um Vorgaben, sondern nur um Anregungen, die die Lebensmittelindustrie zum Umdenken bringen sollen. Tombek spricht von zu kleinen Schritten mit zu wenig Mehrwert. Den freiwilligen NutriScore gibt es ja inzwischen. Er soll dem Verbraucher dabei helfen, Lebensmittel grob einzuschätzen. Tombek plädiert für einen verbindlichen Einsatz solcher Maßnahmen: „Die Ernährungsampel ist umstritten und bestimmt auch nicht perfekt. Ernährung ist eben komplex. Es wäre aber ein klares Labelling, wo man auf den ersten Blick erkennt: Dieses Lebensmittel ist eher positiv oder eher negativ.“
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