Selbst im Endstadium erhalten Tumorpatienten häufig eine palliative Chemotherapie. Sie profitieren weder von mehr Lebenszeit noch von mehr Lebensqualität. Wissenschaftler fordern deshalb, mit Augenmaß zu behandeln – und vor allem besser zu kommunizieren.
Rund 500.000 Menschen erkranken pro Jahr in Deutschland neu an Krebs. Trotz guter Prognosen gelingt es Ärzten und Apothekern nicht immer, maligne Erkrankungen erfolgreich zu therapieren. Hier kommen palliative Ansätze ins Spiel, um die Lebensqualität zu verbessern. Beispielsweise nennt die aktuelle S3-Leitlinie Palliativmedizin pharmakotherapeutische Möglichkeiten gegen Atemnot, Tumorschmerz, Depression und Obstipation. Daneben sehen organspezifische Leitlinien bei unheilbaren Krebserkrankungen meist eine palliative Chemotherapie vor. Schätzungen zufolge erhält fast jeder zweite Patient am Lebensende Onkologika – nicht immer zum eigenen Wohl.
Bereits im letzten Jahr lieferte die „Coping with Cancer“-Studie wenig erbauliche Hinweise. Dr. Alexi A. Wright und Professor Holly G. Prigerson aus Boston werteten Daten von 386 Patienten mit metastasierten Krebserkrankungen aus. Die prognostizierte Lebenserwartung lag bei maximal sechs Monaten. Zu Beginn der Erhebung erhielten 56 Prozent eine palliative Chemotherapie. Sahen sich Forscher nur die letzten acht Lebenswochen an, waren es sogar 62 Prozent. Wer Zytostatika bekam, entschied sich nicht so oft für eine rein symptomatische Therapie (26 versus 39 Prozent) und sah seltener die Tragweite seiner eigenen Krankheit (35 versus 50 Prozent), jeweils gemessen an der Vergleichsgruppe ohne Zytostatika. Patienten mit palliativer Chemotherapie starben seltener zu Hause (47 versus 66 Prozent), dafür aber häufiger auf einer Intensivstation (11 versus 2 Prozent). Auch medizinisch war es um sie schlecht bestellt. Ärzte griffen deutlich häufiger zu intensivmedizinischen Maßnahmen als bei der Vergleichsgruppe (14 versus 2 Prozent). Ein Gewinn an Lebenszeit ließ sich nicht nachweisen – ein Verlust an Lebensqualität scheint möglich zu sein. Wright glaubt aber nicht, dass „die palliative Chemotherapie in diesem Stadium sinnlos ist“.
Damit ließ es Holly G. Prigerson nicht bewenden. Ihre nächste Fragestellung: Profitieren wenigstens Patienten mit gutem Allgemeinzustand von einer palliativen Chemotherapie? Hinweise lieferten ihr ältere klinische Studien. Um ihre Hypothese zu untersuchen, rekrutierte die Onkologin 312 Patienten mit metastasierten Karzinomen und geschätzt maximal sechsmonatiger Lebenserwartung. Anfangs wurden verschiedene Parameter erfasst, unter anderem der WHO/ECOG-Performance-Status. Bei Werten zwischen 0 und 1 waren alle Personen in der Lage, sich selbst zu versorgen und normalen Tätigkeiten nachzugehen. Kurz nach dem Tod befragten geschulte Teams Angehörige zur Lebensqualität. Auch hier überraschte das Ergebnis: Weder lebten die Studienteilnehmer länger noch hatten sie eine höhere Lebensqualität. Im Gegenteil: Behandlungen mit Zytostatika führte zu zahlreichen unerwünschten Effekten. Lag der WHO/ECOG-Status von Krebspatienten zu Beginn bei 2 oder 3, zeigten sich allerdings weder signifikante positive oder negative Veränderungen.
Charles Blanke und Erik Fromme, Portland, lassen diese Arbeit nicht unkommentiert. Im Editorial schreiben sie, dass „Chemotherapien nur Sinn machen, um das Leben von Palliativpatienten zu verlängern und/oder zu verbessern“. Soweit, so klar. Daraus folgern sie aber nicht, auf palliative Behandlungen gänzlich zu verzichten. Prigerson erfasste WHO/ECOG-Scores nur recht ungenau – über die retrospektive Befragung von Laien. Auch fehlten der Forscherin Details über Art und Dosierung zytostatischer Wirkstoffe. Beide Editorial-Autoren raten Ärzten deshalb, mit Augenmaß zu therapieren – und Patienten stärker in Entscheidungen einzubinden. Nicht allen Menschen mit Krebs war bewusst, was es mit einer palliativen Chemotherapie auf sich hatte. Sie schöpften falsche Hoffnung und kämpften, wo es nichts mehr zu gewinnen gab.
Kommunikative Missverstände tauchen an weiteren Stellen auf. „Studien haben gezeigt, dass die Einschätzung der Lebensqualität durch einen Arzt Diskrepanzen zu den Aussagen von Patienten aufwies“, sagt Professor Dr. Dirk Vordermark, Halle (Saale). Auch würden Therapiemaßnahmen nicht immer die positiven auf die Lebensqualität der Patienten erzielen, die Behandler sich erhofften. Deshalb hat der Onkologe ein spezielles Tool getestet. Er setzt bei älteren Krebspatienten nicht nur auf einen europaweit standardisierten Basis-Fragebogen zur Lebensqualität (EORTC-QLQ-C30), sondern zusätzlich einen neuen Modul-Fragebogen (QLQ-ELD14). Einige Resultate: Vordermark zufolge standen sechs Monate nach der Therapie bei Menschen mit Krebs vor allem Sorgen um die Zukunft sowie die Last der Krankheit und die familiäre Unterstützung im Fokus. Auch hatte sich die physische Verfassung oft verschlechtert. Zwar ging es nicht speziell um palliative Chemotherapien. Die Resultate lassen sich aber auf Personen mit unheilbaren Krebserkrankungen übertragen, um neue Möglichkeiten der Intervention zu finden. Originalpublikationen: Associations between palliative chemotherapy and adult cancer patients’ end of life care and place of death: prospective cohort study Alexi A Wright et al.; BMJ; 348 doi: 10.1136/bmj.g1219; 2014 Chemotherapy Use, Performance Status, and Quality of Life at the End of Life Holly G. Prigerson et al.; JAMA Oncol., doi: 10.1001/jamaoncol.2015.2378; 2015