Die Bedeutung von Aerosolen bei der Übertragung von SARS-CoV-2 wird immer noch unterschätzt. Eine Gruppe internationaler Experten beantwortet jetzt die großen Fragen – und übt scharfe Kritik an der WHO.
Ein internationales Team von Aerosol-Forschern und Ingenieuren hat es sich zur Aufgabe gemacht, die drängendsten Fragen zur Übertragung von SARS-CoV-2 zu beantworten – basierend auf der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz. In dem fast 60 Seiten starken Dokument widmen sich die Autoren auch der Virenübertragung per Aerosole und kritisieren den Standpunkt der Weltgesundheitsorganisation (WHO) scharf.
Das Dokument namens FAQs on Protecting Yourself from COVID-19 Aerosol Transmission ist als Fragenkatalog aufgebaut. Hier einige wichtige Punkte des Dokuments:
Für SARS-CoV-2 gibt es drei Übertragungswege:
Laut der Autoren wird die Ansteckung über Aerosole von Gesundheitsbehörden und in der Öffentlichkeit viel zu wenig beachtet. Die WHO etwa stuft die Übertragung per Aerosole trotz stichhaltiger wissenschaftlicher Beweise als möglich, aber gering ein. Die Infektion über Kontaktflächen und Tröpfchen seien laut der Gesundheitsbehörde die Hauptübertragungswege.
Die Autoren sehen Aerosole hingegen als wichtigen, wenn nicht sogar als den wichtigsten Übertragunsweg. Das begründen sie unter anderem damit, dass auch asymptomatische Patienten andere Menschen anstecken. Diese Patienten husten oder niesen nicht (oder wenig) und setzen damit keine größeren Tröpfchen frei, Aerosole hingegen schon.
An dieser Stelle räumen die Autoren auch mit einem großen Missverständnis auf. Lange hieß es, dass mit Viren beladene Aerosoltröpfchen nicht größer als 5 μm sein können, weil sie lange in der Luft schweben. Das korrigieren die Autoren, denn inzwischen hat sich gezeigt, dass auch größere Tröpfchen länger in der Luft verbleiben können; bei Raumtemperatur etwa ein bis zwei Stunden, erklären die Autoren.
Ein Punkt, den Kritiker der Aerosol-Theorie immer wieder vorbringen, ist, dass SARS-CoV-2 viel ansteckender sein müsste, wenn Aerosole der Hauptübertragunsgweg seien – so wie bei Masern. Doch das ist bloß ein Mythos, sagen die Wissenschaftler. Es gebe keinen Grund dafür, dass die Natur ausschließlich hochansteckende Viren hervorbringt, die sich über Aerosole verbreiten würden. Auch andere Viren (etwa Influenza) werden teilweise über Aerosole verbreitet und seien nicht derart infektiös.
Dass die Aerosol-Übertragung vernachlässigt wird, hat wohl auch historische Gründe. Das begründen die Autoren so: Einflussreiche Infektiologen haben Anfang des 20. Jahrhunderts viel zum Verständnis von Infektionskrankheiten beigetragen, indem sie Zusammenhänge richtig erkannten. Dabei wurde die Ansteckung über Tröpfchen zu einer unumstößlichen Tatsache, die keinerlei Beweise benötige.
Über die Zeit wurde die Tröpfcheninfektion zum Dogma der Übertragung von Atemwegserkrankungen. Diese Tatsache wird auch heute noch von vielen Experten nicht hinterfragt. So kommt es, dass auch Gesundheitsbehörden wie die WHO und die Centers for Disease Control (CDC) nicht davon abrücken, den Hauptübertragunsgweg von SARS-CoV-2 in den Tröpfchen zu suchen – obwohl inzwischen vieles auch für den Aerosol-Übertragungsweg spricht.
Für die Übertragung in Räumen gilt: SARS-CoV-2 mag es kalt und trocken. In trockener Luft scheinen die lipidumhüllten Viren länger zu überleben und virusbelandene Tröpfchen können sich länger in trockener Luft halten. Bei hoher Luftfeuchtigkeit werden die Tröpfchen größer und fallen eher zu Boden. Zudem macht trockene Luft den Menschen anfälliger für Infektionen. Die Autoren machen darauf aufmerksam, dass Temperatur und Luftfeuchtigkeit nur bei der Übertragung über eine weitere Distanz eine Rolle spielt. Bei unmittelbarem Kontakt ist dies zu vernachlässigen.
Quelle: V. ALTOUNIAN/SCIENCE
Wenn die Abstände in Innenräumen nicht eingehalten werden können, sollten Masken getragen werden. Dies kann die Ausbreitung definitiv verhindern, weil ausgestoßene Partikel zurückgehalten werden. Zu einem gewissen Grad könnten Masken auch den Träger selbst schützen, erklären die Autoren.
Die Autoren räumen zudem mit Vorurteilen auf, was das Maskentragen angeht: So heißt es manchmal, dass das Tragen von Masken gar nichts bringen würde, weil die Viren durch die Poren gelangen könnten – sofern es keine spezielle FFP2-Maske ist. Wenn man davon ausgeht, dass Viren stets nackt durch die Luft schweben, dann könnte diese Annahme auch stimmen. Da die Viren aber in Tröpfchen umherreisen, können Masken den Partikelfluss zu einem gewissen Grad unterbrechen. Das hängt aber natürlich auch vom verwendeten Material und der Passform der Maske ab.
In ihrem Dokument liefern die Autoren wissenschaftlich fundierte Antworten auf die wichtigsten Fragen zur SARS-COV-2-Übertragung. Sie wollen mit Vorurteilen aufräumen und vor allem die Aufmerksamkeit auf die Aerosol-Übertragung lenken. Das ist ihnen mit ihrem Dokument gelungen. Darin kritisieren sie auch, dass die WHO ihre Empfehlungen nicht an die neusten Forschungsergebnisse anpasst.
Erst vergangene Woche hatte das CDC in den USA eine Warnung vor ernsten Risiken einer Aerosolübertragung von SARS-CoV-2 veröffentlicht. Nur zwei Tage später hatte das CDC auf Druck der WHO dieses Statement wieder von seiner Homepage entfernt – es habe sich um einen Entwurf gehandelt, der irrtümlich veröffentlicht worden sei.
Den vollständige Fragenkatalog findet ihr hier.
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Bildquelle: Rodion Kutsaev, unsplash