Aufruhr um eine Studie der Bertelsmann-Stiftung: Gynäkologen bieten Schwangeren diverse Vorsorgeuntersuchungen an – großteils als IGeL-Leistung. Sehen Ärzte werdende Mütter als gute Einnahmequelle oder passen Mutterschafts-Richtlinien nicht mehr zur modernen Medizin?
Aufregung in der gynäkologischen Praxis: Etwa 99 Prozent aller schwangeren Frauen erhalten mehr Untersuchungen, als in Mutterschafts-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses vorgesehen. Das berichten Wissenschaftler der Bertelsmann-Stiftung. Sie interviewten 1.293 Mütter, die im vergangenen Jahr ihr Baby zur Welt gebracht haben, per Fragebogen.
Dabei machte es wenig Unterschied, ob die Schwangerschaft problemlos verlief oder nicht. Gynäkologen boten werdenden Müttern stets die gleichen Leistungen an: Nahezu jede Schwangere erhielt eine Kardiotokographie – und jede zweite Frau wurde mehr als fünf Mal per Sonographie untersucht. „Mehr ist nicht zwingend besser. Es gibt eine klare Überversorgung während der Schwangerschaft“, kritisiert Uwe Schwenk von der Bertelsmann-Stiftung. Rund 80 Prozent aller Patientinnen mussten tief in die Tasche greifen und Zuzahlungen leisten. Alter, Einkommen oder Bildungsabschluss hatten einen Einfluss darauf, ob Zusatzleistungen in Anspruch genommen wurden. Professor Dr. Rainhild Schäfers von der Hochschule für Gesundheit in Bochum, eine der Autorinnen, sieht noch weitere Gefahren: „Das Überangebot an Untersuchungen schürt die Angst der Frauen vor der Geburt und möglicherweise auch ihren Wunsch nach einer vermeintlich sicheren Kaiserschnitt-Entbindung.“
Ein Aufschrei geht durch die Republik: Wollen Gynäkologen ihren Patientinnen nur Geld aus der Tasche ziehen? Ganz so einfach ist die Sache nicht. Momentan empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss in seinen Mutterschafts-Richtlinien neben Beratungsgesprächen und labordiagnostischen Tests drei Ultraschalluntersuchungen: in der 10., 20. und 30. Schwangerschaftswoche. Kollegen kritisieren, dass die Vorgaben nur noch wenig mit medizinischen Realitäten unserer Tage zu tun haben. „Da heute deutlich mehr und ältere Frauen mit Risiken wie schweres Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes etc. schwanger werden als vor 20 Jahren, kann es durchaus sein, dass sich insgesamt bezogen auf die Zahl der Schwangeren die durchschnittliche Zahl an Terminen erhöht hat“, stellen der Berufsverband der Frauenärzte (BVF) und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) gemeinsam klar. Dass Schwangere heute mehr diagnostische Leistungen erhalten, wissen beide Fachgesellschaften. Sie spielen den Ball an gesetzliche Krankenkassen zurück.
Heute gibt es aus wissenschaftlicher Sicht neue Möglichkeiten. „Diagnostische Maßnahmen, die sinnvoll sind, sich für die Krankenkassen aber wirtschaftlich nicht ‚rechnen‘, wie zum Beispiel den Toxoplasmose-Test oder auch den Test auf Streptokokken in der Spätschwangerschaft, werden wir Schwangeren immer empfehlen, auch wenn sie keine Kassenleistungen sind“, stellen Vertreter des BVF und der DGGG klar. Auch habe der Ausschluss einer Eileiterschwangerschaft, eines intrauterinen Hämatoms oder eine Myoms schon viele Leben gerettet. Gleichzeitig weisen Verbände auf methodische Schwächen hin. So kritisieren Forscher häufige Herzfrequenz- und Wehen-Ableitungen, ohne anzugeben, ob Ärzte in der Praxis oder in der Geburtsklinik aktiv geworden sind. Messungen erleichtern Hebammen und Ärzten die Beurteilung einer Schwangerschaft – etwa, um leichte Kontraktionen von Wehen zu unterscheiden. Dass Deutschland bei der Säuglingssterblichkeit und der Müttersterblichkeit im weltweiten Vergleich extrem niedrige Werte aufzuweisen hat, kommt nicht von ungefähr. Bleibt als Fazit: Nicht die Ärzte sind zu kritisieren, sondern veraltete Vorschriften.
Noch ein Blick auf das umstrittene „Baby-TV“: Werdende Mütter wünschen sich oft Ultraschall-Bilder ihrer ungeborenen Babys für den persönlichen Gebrauch, aber ohne medizinische Notwendigkeit. „Weiterführende Untersuchungen können Frauen emotional belasten“, schreiben Bertelsmann-Forscher dazu. Die Meinung teilen nicht alle Gynäkologen. Gerade bei Konfliktschwangerschaften könnten sich technische Methoden eignen, um eine emotionale Bindung zu schaffen und die Annahme des Kindes zu erleichtern. So oder so bleiben Ultraschalluntersuchungen ohne Gefahr für Mutter und Kind. Daraus die Schlussfolgerung abzuleiten, häufige Aufnahmen in der Schwangerschaft würden die Kaiserschnittrate erhöhen, ist Fachgesellschaften zufolge eine gewagte Hypothese. Wissenschaftliche Belege fehlen derzeit.
Ein Denkanstoß für die Praxis bleibt trotzdem: Obwohl 80 Prozent aller befragten Frauen angaben, „sehr gut“ beziehungsweise „gut“ beraten worden zu sein, fühlte sich nur jede zweite Befragte über die Aussagekraft beziehungsweise die Wirkungsweise einer Maßnahme „sehr gut“ aufgeklärt. Beispielsweise dachten 95 Prozent, CTGs gehörten zu den Routinemaßnahmen. Bieten Kollegen weitere Leistungen an, sollten alle Informationen laienverständlich kommuniziert werden.