Ist die Herdenimmunität der beste Weg, um die Corona-Pandemie zu beenden? Das wird immer wieder diskutiert. Jetzt flammt der Streit wegen eines Dokuments erneut auf.
In einem offenen Brief sprechen sich zwei Wissenschaftler aus den USA und eine Wissenschaftlerin aus Großbritannien gegen die strikten Maßnahmen zur Eindämmung der SARS-CoV-2-Pandemie aus. In ihrer sogenannten „Great Barrington Declaration“ plädieren sie für einen bekannten und kontrovers diskutierten Ansatz: Statt bevölkerungsweiter Strategien sollen gezielt ältere Menschen geschützt werden. So könnte der Großteil der Menschen ein normales Leben führen und, so argumentieren die Wissenschaftler, käme man der Herdenimmunität Stück für Stück näher.
Die Verfasser der Erklärung sind
Sie argumentieren, dass die aktuellen COVID-19-Maßnahmen und Restriktionen „verheerende Auswirkungen“ auf die öffentliche Gesundheit haben. Sie würden die Routineversorgung stören und der psychischen Gesundheit schaden, wobei die Unterprivilegierten dabei die größte Last trügen.
Während viele Regierungen versuchen, die Virus-Ausbreitung zu unterdrücken bis Impfstoffe gefunden sind, schlägt das Trio vor, dass nur ältere und gefährdete Menschen abgeschirmt werden sollten. Denjenigen, die am wenigsten gefährdet sind, „sollte es sofort erlaubt werden, ihr normales Leben wieder aufzunehmen“.
So wünschenswert und nachvollziehbar dieser Ansatz klingt, er ist schwer umzusetzen. Das Hauptargument von Kritikern dieser Strategie ist folgendes: Eine Herdenimmunität ohne Impfstoff aufbauen zu wollen, ist mit immensen Risiken verbunden – nicht nur für gefährdete Gruppen, sondern auch für die Normalbevölkerung. Das sagt etwa eine Gruppe von Wissenschaftlern, die sich „Independent SAGE“ nennen und es sich zur Aufgabe gemacht hat, der Öffentlichkeit, unabhängige wissenschaftliche Empfehlungen zur COVID-19-Pandemie zu liefern.
Auch andere Mediziner und Wissenschaftler, die nicht dieser Gruppe angehören, sind von dem Ansatz wenig überzeugt. In der Erklärung fehlen konkrete Ideen, wie ein gezielter Schutz der gefährdeten Bevölkerung besser als bisher ausgestaltet werden soll. Eine komplette Abschirmung gefährdeter Personen kann nie garantiert werden. „Wie um alles in der Welt sollen wir logistisch gesehen die Gefährdeten identifizieren und sie wirksam vom Rest der Gesellschaft trennen?“, fragt sich etwa Dr. Stephen Griffin, Associate Professor an der School of Medicine, Universität Leeds.
„Während die gesunden Menschen wieder normal ihrem Leben nachgehen, sollen die Verwundbaren der Gesellschaft irgendwie vor der Übertragung eines gefährlichen Virus geschützt werden. Das ist eine ganz schlechte Idee“, findet Dr. Michael Head, Senior Research Fellow in Global Health der University of Southampton. Selbst bei intensiver Abriegelung zu Beginn der Pandemie stieg die Zahl der Todesopfer in Großbritannien immens, wobei die älteren Menschen die Hauptlast zu tragen hatten. Außerdem gibt er zu Bedenken, dass zwischen 20 und 30 Prozent der britischen Bevölkerung als anfällig für eine schwere COVID-19-Infektion eingestuft werden müssten.
Dr. Rupert Beale, Gruppenleiter des Infektionslabors am Francis Crick Institute in London findet, dass der Ansatz nicht hilfreich bei der Debatte sei: „Eine wirksame Reaktion auf die Corona-Pandemie erfordert mehrere gezielte Interventionen, wie die Entwicklung von Behandlungsmethoden und Impfstoffen sowie auch der Schutz gefährdeter Menschen.“
Diese Erklärung stelle aber nur einen einzigen Aspekt einer vernünftigen Strategie in den Vordergrund – den Schutz der Gefährdeten. Auf diese Art in der übrigen Bevölkerung sicher eine ‚Herdenimmunität‘ aufzubauen, „das ist Wunschdenken“, findet Beale. Es sei nicht möglich alle gefährdeten Individuen zu identifizieren und sicher zu schützen.
So ähnlich argumentiert auch Dr. Julian Tang, Professor für Respiratory Sciences an der Universität von Leicester. Er ist allerdings der Meinung, dass dieser Ansatz bei COVID-19 irgendwann klappen könnte. Doch noch sei man damit zu früh dran, weil noch wichtige Schritte fehlten. Er erklärt es so: „In der jährlichen Influenza-Saison führen wir schon so eine Art ‚Focused Protection‘ der gefährdeten Gruppen durch.“ Das fange mit der Schutzimpfung für Angehörige der Risikogruppen an, erklärt er. Wenn dadurch eine Grippeinfektion der gefährdeten Personen aber nicht verhindert werden kann, könne man noch auf antivirale Medikamente zurückgreifen, um den Schweregrad der Erkrankung zu verringern.
„Aber wir verfügen noch nicht über diese zusätzlichen ‚Werkzeuge‘ (den Impfstoff und die antiviralen Medikamente) für COVID-19, um diesen ‚Focused Protection‘-Ansatz zu unterstützen.“
Ein weiteres gravierendes Problem dieses Ansatzes ist, dass wir noch gar nicht wissen, ob Herdenimmunität überhaupt funktioniert. Dafür muss die Frage beanwortet werden, ob man nach einmaliger SARS-CoV-2-Infektion dauerhaft immun ist. „Wir haben in letzter Zeit von vielen Fällen von Re-Infektionen gehört und einige Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass die schützenden Antikörperreaktionen rasch abklingen können“, erklärt Prof. Jeremy Rossman, Virologe der Universität in Kent.
Rossmann und andere Experten kritisieren auch, dass sich die Erklärung nur auf das Sterberisiko durch COVID-19 konzentriere. Doch auch hinsichtlich der Langzeitgesundheit der Normalbevölkerung sei die Strategie mit Risiken behaftet. Rossmann sagt, in der Erklärung werde das wachsende Bewusstsein für „Langzeit-COVID“ ignoriert, also das Phänomen, dass viele gesunde junge Erwachsene mit leichten COVID-19-Verläufen langwierige Symptome aufweisen.
Schweden hat das Experiment Herdenimmunität gewagt – zumindest in abgespeckter Version. Dort hat die Regierung auf weitreichende Sperrmaßnahmen verzichtet und auf Freiwilligkeit der Bevölkerung gesetzt. Doch das Land war nicht dazu in der Lage, die gefährdete Bevölkerungsgruppe erfolgreich zu schützen. Das zeigen die hohen Todesfallzahlen in Seniorenheimen. Nach zwischenzeitlicher Entspannung der Lage im August, steigen die Fallzahlen im Land nun wieder an.
Virologe Ulf Dittmer vom Universitätsklinikum Essen vermutet, dass sich in größeren Städten Schwedens wie Stockholm schon viele Menschen infiziert haben könnten. Aber von Herdenimmunität könne noch keine Rede sein.
Bildquelle: United Nations COVID-19 Response, unsplash