Seit Jahren streiten Experten hierzulande über die Notwendigkeit eines Facharztes für Notfallmedizin, wie er sich in Europa bereits etabliert hat. Ist die deutschlandweit erste Professur für Notfallmedizin der Startschuss für eine Revolution der Weiterbildungsordnung?
Vor kurzem vergab das Universitätsklinikum Jena die deutschlandweit erste Professur für Notfallmedizin an den ehemaligen Präsidenten der Österreichischen Vereinigung für Notfallmedizin, Prof. Wilhelm Behringer. Davon erhoffe man sich zusätzlich zur Stärkung der Notfallversorgung einen Ausbau der Lehrinhalte, erläutert Prof. Klaus Benndorf, Dekan der Medizinischen Fakultät. Behringer selbst schätzt das Potenzial des neuen Lehrstuhls allerdings weitaus mutiger ein: „Die Kombination aus notfallmedizinischer Krankenversorgung mit der Lehre und Forschung hier in Jena ist sicherlich wegweisend für Deutschland.“ Neben seiner Arbeit am Universitätsklinikum Jena zähle es daher ebenfalls zu seinen Zielen, sich für ein Sonderfach Notfallmedizin auch in Deutschland einzusetzen, verspricht Behringer.
In Deutschland stellt die Notfallmedizin nach wie vor ein Querschnittsfach dar – die Muster-Weiterbildungsordnung (MWBO) der Bundesärztekammer (BÄK) bietet in den verschiedenen Versionen der Landesärztekammern bisher lediglich eine 24-monatige Zusatz-Weiterbildung (ZWB) Notfallmedizin an. Obwohl wesentliche Teile der Ausbildung im stationären Bereich angesiedelt sind, richtet sich die ZWB Notfallmedizin jedoch nicht an notfallmedizinisch tätige Ärzte im Krankenhaus, sondern dient einzig und allein dem Erwerb der Ausübungsberechtigung als Notarzt im Rettungsdienst. In deutschen Notaufnahmen sucht man somit meist vergeblich nach speziell ausgebildeten Notfallmedizinern, wie sie in weiten Teilen des europäischen Auslands längst Standard sind. Einer Neuordnung der notfallmedizinischen Versorgung im Krankenhaus ist daher auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) nicht abgeneigt, die sich aus über 30 Fachgesellschaften zusammensetzt: „Es ist unstrittig, dass wir etwas verbessern müssen“, bestätigt DIVI-Präsidentin Prof. Elke Muhl. Zu diesem Zweck hat die DIVI im Rahmen der Novellierung der MWBO bei der BÄK eine zweijährige ZWB Interdisziplinäre Notaufnahme beantragt, die allerdings nur für die fachärztlichen Leiter von Notaufnahmen verpflichtend sein soll. Darüber hinaus entfiele für die meisten Aspiranten die Hälfte der Weiterbildungszeit, da sich ein Jahr aus der Facharztausbildung anrechnen ließe. „Wir denken, dass die Notfallversorgung mit Fachärzten auf diesem hohen Niveau einmalig ist in Europa“, verteidigt Muhl die mageren Reformpläne. Denn die fachbezogene Kompetenz sei ja längst integraler Bestandteil der Weiterbildung in der Chirurgie, Inneren Medizin, Pädiatrie, Neuromedizin und Anästhesiologie. „Insofern denke ich, brauchen wir diesen Facharzt für Notfallmedizin nicht“, schlussfolgert sie. Stattdessen brauche man in der Notaufnahme Fachärzte mit einer zusätzlichen Weiterbildung in der Notfallmedizin. Bei der BÄK hat man zudem den wirtschaftlichen Aspekt als erhebliche Hürde identifiziert: „Eine Besetzung von Notaufnahmen mit Fachärzten für Notfallmedizin dürfte sich in Anbetracht der ökonomischen Bedingungen gerade für kleinere Krankenhäuser als problematisch erweisen.“
Europaweit hat sich die Notfallmedizin bereits in 18 Ländern, darunter in England und Italien, mit einer eigenständigen Facharztqualifikation etabliert. Zudem können Ärzte in Finnland, Frankreich und Schweden zumindest eine entsprechende Zusatzbezeichnung erlangen. Die European Society for Emergency Medicine (EuSEM) sowie die notfallmedizinische Abteilung der Union Européenne des Médecins Spécialistes (UEMS) halten die nationalen Fachgesellschaften daher bereits seit Jahren dazu an, der Notfallmedizin nach und nach mehr Selbstständigkeit zu verleihen. „Ich halte Deutschland für ein Entwicklungsland, was die notfallmedizinische Qualifikation angeht“, tadelt EuSEM-Vizepräsidentin Barbara Hogan die schleppenden Fortschritte bei der notfallmedizinischen Ausbildung in Deutschland. „In den meisten europäischen Ländern gibt es die fünfjährige Ausbildung zum Facharzt für Notfallmedizin, und da muss Deutschland unbedingt anschließen“, fordert Hogan. Dementsprechend erhob sich die mit EuSEM und UEMS kooperierende Deutsche Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) mit der öffentlichen Forderung nach einem eigenen Facharzt für Notfallmedizin und wurde prompt als förderndes Mitglied aus der DIVI ausgeschlossen – die geforderte Ausbildung zum Facharzt für Notfallmedizin orientiere sich zu sehr an der Breite statt an der Tiefe des Wissens. DGINA-Präsident Prof. Christoph Dodt beobachtet allerdings noch ganz andere Gründe für die Vorbehalte der DIVI und der BÄK: „Etablierte Fachgebiete befürchten eine Abwanderung von jungen Ärzten in die Notfall- und Akutmedizin.“ Zudem seien die Notaufnahmen für manche Fachdisziplinen wie ein Vorgarten, der zwar inhaltlich oft vernachlässigt, aber dennoch zu wichtig für die Patientenrekrutierung sei, so Dodt. Das von der DGINA vorgesehene Konzept einer für Fachärzte üblichen fünfjährigen Ausbildung zum Notfallmediziner scheint jedoch laut Dodt aktuell nicht den vehementen Widerstand der großen Fachgesellschaften im Deutschen Ärztetag überwinden zu können. Stattdessen reichte die DGINA eine dreijährige ZWB Klinische Notfall- und Akutmedizin als Vorschlag für die Novellierung der MWBO ein. Bei der Berliner Ärztekammer stieß diese Alternative auf derart breite Zustimmung, dass sie bereits im vergangenen Herbst in die WBO der Hauptstadtkammer aufgenommen wurde. DGINA-Präsident Dr. Timo Schöpke erhofft sich von diesem Teilerfolg bundesweite Veränderungen: „Wir appellieren nun an die einzelnen Landesärztekammern, dem Berliner Konzept zu folgen und es vollumfänglich in die aktuelle Revision der Muster-Weiterbildungsordnung aufzunehmen.“
Der Etappensieg der DGINA in Berlin schürt die Vermutung, dass der Facharzt für Notfallmedizin trotz aller Skepsis und allen Widerstands auch hierzulande kaum mehr als eine Frage der Zeit sein könnte. Bis dahin dient ein Blick ins Ausland als mahnendes Beispiel für eine missglückte Implementierung des Facharztes für Notfallmedizin. Wie der im Birmingham Children’s Hospital tätige Anästhesist und Notarzt Karl-Christian Thies berichtet, habe sich die seit über zwanzig Jahren etablierte Eigenständigkeit der Notfallmedizin in Großbritannien aufgrund von Missmanagement, Unterfinanzierung und Personalmangel in eine nunmehr bedrohliche Autonomie verwandelt: „Dass Patienten auf den Korridoren der Notaufnahmen sterben, ist leider keine Ausnahme mehr.“ Die Entkoppelung der Notfallmedizin von den traditionellen Fächern habe in der Notaufnahme ein therapeutisches Vakuum hinterlassen: „Die klassischen notfallmedizinischen Disziplinen sind bestenfalls noch Gast in den Notaufnahmen, falls sie überhaupt hinzugezogen werden“, schildert Thies. Da es der Notfallmedizin als Querschnittsfach an der longitudinalen Prozessübersicht fehle, seien erhebliche Defizite in der Versorgung von Polytraumata und internistischen Notfällen die Folge. Den letzteren versuche man nun mit der neu ins Leben gerufenen Fachdisziplin „Acute Medicine“ beizukommen, die als Bindeglied zwischen der Notaufnahme und den stationären Abteilungen fungieren soll. Ein vor die Notaufnahme geschaltetes Notarztwesen sei außerdem erst im Aufbau begriffen. „Die notfallmedizinische Versorgung in Großbritannien ist durch eine Segmentierung des Behandlungspfades, schlechte Kommunikation an den Schnittstellen und mangelnde Prozessübersicht aller Beteiligten gekennzeichnet“, resümiert Thies. Angesichts der Diskussionen um den Facharzt für Notfallmedizin in Deutschland warnt Thies daher vor einer verklärenden Wahrnehmung des von Befürwortern oftmals zitierten britischen Modells: „Bedauerlicherweise entspricht das in deutschen Fachzeitschriften porträtierte positive Bild nicht der Realität.“ Trotz der merklichen strukturellen Unterschiede zur deutschen Notfallmedizin wird somit deutlich, dass auch eine selbstständige Notfallmedizin weiterhin einer nachhaltigen und engen Zusammenarbeit aller beteiligten Fachdisziplinen bedürfte.