Seit Ende 2013 kämpfen Medizinstudenten der Uni Münster für eine Reform der Lehrpläne. Viele Elemente des Studiums sind nicht mehr zeitgemäß. Widerstand kommt vor allem aus der Vorklinik. Doch die Nachwuchsmediziner setzen ein Zeichen.
Die Atmosphäre ist zugegebenermaßen merkwürdig an diesem 2. Juli 2015. Vor dem Dekanatsgebäude der Westfälischen Wilhelms-Universität haben sich rund 300 Medizinstudenten versammelt. Das altehrwürdige Gebäude ist Ziel eines Trauermarsches, den die Jungakademiker angesichts der aktuellen Situation in der westfälischen Universitätsstadt veranstalten. Konkret geht es um eine weitreichende Reform des Curriculums, das aktuell als zu theorielastig und nicht mehr zeitgemäß angesehen wird. „Im Hinblick auf die ärztliche Tätigkeit werden viele notwendige Kompetenzen zu wenig oder gar nicht gelehrt“, so Markus Kentgen. Der Student engagiert sich im Referat für Öffentlichkeitsarbeit der Fachschaft Medizin und war außerdem in den letzten eineinhalb Jahren Mitglied in der Curriculumskommision. Den Reformwilligen weht ein starker Wind entgegen. Nicht wenige fürchten, die dringend notwendigen Erneuerungen in der Lehre könnten am allzu starken Widerstand der Fakultät scheitern und schließlich völlig im Sande verlaufen. Die Münsteraner Studenten bei ihrem Trauermarsch. © Bild: Fachschaft Medizin Münst
Das insgesamt stark verschulte Medizinstudium besitzt einen hohen Anteil an Vorlesungen. Diese sind zur allgemeinen Wissensvermittlung gerade in der Vorklinik unverzichtbar, jedoch verirren sich nicht wenige Professoren in sehr tiefgehender, hochwissenschaftlicher Detailverliebtheit. Es ist wenig verwunderlich, dass hier vieles im Laufe der Zeit wieder vergessen wird. Als praktizierender Arzt darf man sich getrost die Frage stellen, ob jedes Atom vom Citratzyklus für die Patientenversorgung relevant ist. Naturwissenschaftliche Grundlagen sind notwendig, ohne Frage. „Lieber weniger Vorlesungen, dafür mit relevantem Grundlagenwissen und Inhalten, die dann am Ende aber jeder beherrscht und auch braucht“, wünscht sich Markus Kentgen. Gegen die vielen Vorlesungen spricht außerdem die heutzutage sehr einfache Art des Wissenserwerbes. Mit wenigen Klicks kann sich jeder die Fakten am Computer herausfiltern, die für seine aktuelle Lernsituation nötig sind.
Die naturwissenschaftlichen Grundlagen sind essenziell für das Verständnis von Krankheitsprozessen, Medikamentenwirkungen und viele weitere Elemente im klinischen Alltag. Aber genau hier liegt ein weiteres großes Problem im aktuellen Curriculum: Der oft große zeitliche Abstand zwischen der Grundlagenlehre und der praktischen Anwendung im ärztlichen Alltag. Markus Kentgen formuliert es wie folgt: „Die strikte Trennung von Vorklinik und Klinik sorgt dafür, dass zwischen Grundlagenfächern und den dazugehörigen klinischen Fächern teilweise sehr viel Zeit vergeht, in der man die Grundlagen wieder vergisst.“ Praktisches Beispiel: Im Extremfall kann es passieren, dass die Anatomie des Gehirns im zweiten Semester gelehrt wird, die Neurochirurgie – also die praktische Umsetzung des Wissens – kurz vorm PJ im 10. Semester. In diesem Fall lägen vier Jahre dazwischen. „Durch kürzere zeitliche Abstände könnte man die Vernetzung zwischen den Fächern und damit die Nachhaltigkeit deutlich verbessern.“ Im Ausland geht der Trend bereits seit langem hin zu einer Verknüpfung naturwissenschaftlicher und klinischer Inhalte.
Ein weiteres Anliegen der Ärzte in spe: Die Lehre muss besser auf den späteren Alltag im Krankenhaus vorbereiten. Die Vermittlung praxisrelevanter Fertigkeiten und Kompetenzen muss unbedingt gestärkt werden, so der einhellige Tenor. Operationstechniken, Therapiekonzepte und der Wirkungsmechanismus von Arzneimitteln – das alles wird zwar ausreichend gelehrt. Was aber ist mit Faktoren wie Organisation, empirischem Arbeiten und Kommunikationsstrategien? „Im Studium bringt mir keiner bei, wie ich mich im Stationsalltag nicht völlig verzettele oder nach vier Wochen im ersten Nachtdienst zurechtkomme“, kritisiert Kentgen. Zu einem reformierten Curriculum würde nach Wunsch der Medizinstudenten auch eine stärkere Vermittlung evidenzbasierter Arbeitstechniken gehören. Hier ist als Beispiel die korrekte Auswertung von Studienmaterial zu nennen. All das kommt derzeit zu kurz.
Was z. B. in Köln, Aachen oder Hannover bereits seit vielen Jahren erfolgreich praktiziert wird, könnte auch an der Uni Münster eine Lösung sein. Modellstudiengänge zeichnen sich durch eine wesentlich stärkere Verzahnung von vorklinischen mit klinischen Inhalten aus; eine strikte Trennung wie beim klassischen Medizinstudium findet nicht mehr statt. Doch insbesondere von Vertretern klassischer vorklinischer Fächer wie der Anatomie kommt Widerstand. Überhaupt sei die Frage erlaubt, warum es überhaupt zu einer solchen Diskrepanz zwischen Studenten und Universität kommen musste. Wieso ist eine solche Aktion wie der Trauermarsch notwendig? Gute Lehre begräbt man nicht. © Bild: Fachschaft Medizin Münst
Es macht sich zunehmend die Befürchtung breit, die Reformvorhaben könnten von den verantwortlichen Stellen gewissermaßen „ausgesessen“ werden. Dabei gäbe es genug Lösungen für das Problem wie das genannte Modellkonzept. Markus Kentgen und seine Kommilitonen haben sich zahlreiche Projekte im In- und Ausland angesehen und Studien – z. B. aus Kanada – ausgewertet. „Zum Glück müssen wir das Rad nicht neu erfinden“, resümiert der Wortführer der Protestbewegung in Anspielung auf die vielen guten Erfahrungen, die anderorts mit dem Modellstudiengang bereits gemacht wurden. Rückendeckung für ihre Forderungen erhalten die Westfalen auch von der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd). „Sie entsprechen weitestgehend eigenen am 1. Juni 2014 auf der Medizinstudierendenversammlung in Essen beschlossenen und im Konzeptpapier Zukunft und Weiterentwicklung des Medizinstudiums festgehaltenen Positionen und den Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Medizinstudiums in Deutschland des Wissenschaftsrats vom 11.07.2014“, heißt es in einer Veröffentlichung des bvmd. Sehr innovativ mutet auch ein weiterer Vorschlag der jungen Mediziner an: Ein Wahlfachcurriculum. Hierbei würde jedem Fach ein Pflicht- und ein Wahlanteil zugewiesen. Die verpflichtenden Anteile muss jeder durchlaufen. Es besteht im Anschluss aber die Möglichkeit, einzelne Fächer je nach Interesse zu belegen und damit zu vertiefen. Vorteil hierbei: Es könnten bereits während des Studiums individuelle Schwerpunkte gesetzt werden. Die Länge des Studiums würde übrigens unverändert bleiben. Erste Annäherungen und Zugeständnisse gibt es bereits, der Trauermarsch hat also bereits eine gewisse Wirkung gezeigt. An den inhaltlichen Differenzen hat sich bislang aber praktisch nichts geändert. Für die Lehre im Fach Humanmedizin wäre es bedauerlich, wenn um jeden Preis an alten Strukturen festgehalten würde. Genau das droht aber derzeit im Münsterland. „Da wird noch viel Überzeugungsarbeit notwendig sein“, resümiert Kentgen.