Leaky Gut, Sick-Building-Syndrom, Fibromyalgie: Beliebte Diagnosen bei Ärzten, aber auch bei Heilpraktikern. Was ist dran an den Modediagnosen?
Wer sich online informiert, findet reihenweise Angebote zu Modeerkrankungen – oft auf den Websites von Heilpraktikern, teilweise aber auch bei Ärzten. Doch bei der Begrifflichkeit gibt es wesentliche Unterschiede. Wir haben nachgefragt.
Prof. Harald Gündel rät im Gespräch mit DocCheck zur differenzierten Betrachtung. „Ganz klar gibt es Modediagnosen, die nicht wissenschaftlich fundiert sind“, sagt der Experte. Er ist Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Ulm sowie Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatik und Ärztliche Psychotherapie.
„Wir wissen aber auch, dass Menschen in psychischen Belastungssituationen körperlich reagieren, und dass dies verschiedene Organsysteme bevorzugt trifft“, berichtet der Experte. Dazu zählen der Gastrointestinaltrakt, das Herz, die Schmerzempfindung und viele mehr.
Gündel verdeutlicht dies am Beispiel des Reizdarmsyndroms. Im ICD-10 gebe es die Einordnung einmal unter der Kategorie „sonstige Erkrankungen des Darmes“, zum anderen aber auch als somatoforme Störung, sprich als primär psychoreaktive, „funktionelle“ Störung. „Man findet bei betroffenen Patienten nicht selten (diskrete) körperliche Veränderungen. Die Rolle der Psyche ist dabei oft aber nicht unwesentlich“, besonders, wenn es um die Folgen der Erkrankung geht“, so der Experte. Beide Kategorien würden sich stark überlappen; oft sehe man solche Erkrankungen mit zwei unterschiedlichen Brillen. Für Gündel ist das Reizdarmsyndrom kein typisches Beispiel für Modediagnosen, weil es körperliche Entsprechungen gibt.
Als reine Modediagnosen nennt er etwa das Sick-Building-Syndrom oder verschiedene medizinisch seriös anmutende Bezeichnungen vermeintlicher Störungen des Immunsystems: „Oft klingen Modediagnosen wissenschaftlich fundiert, ohne dies zu sein“, sagt der Experte. „Die Namensgebung entsteht frei und verbreitet sich über die Presse dann von selbst.“
Doch was bedeuten solche Begrifflichkeiten für Laien? „Oft haben solche Diagnosen die Funktion, Menschen mit Beschwerden, die Ärzte nicht erklären können, eine gemeinsame Klammer, eine Erklärung für ihre Beschwerden, für die Betroffenen selbst und Außenstehende, an die Hand zu geben“, so der Experte. „Betroffene fühlen sich dann eher in ihrem meist sehr realen Leiden anerkannt und wahrgenommen.“ Seelische Erkrankungen seien (zu Unrecht) oft immer noch stigmatisiert.
Aber auch bei Modediagnosen brauchen Menschen Hilfe. Oft gebe es „massive psychische oder psychosoziale Folgen bei Betroffenen“, so der Experte weiter. „Für uns ist oft nicht in erster Linie wichtig, was aus psychosomatischer Sicht vielleicht vor ein paar Jahren passiert ist.“ Entscheidender sei, die Folgen einer chronischen Erkrankung, eines chronifizierten Beschwerdebildes zurückzudrängen, etwa mit Psychotherapien. Das bedeutet auch, Patienten müssen selbst aktiv werden, ihre Selbstwirksamkeit stärken, und wenn möglich etwas in der alltäglichen Lebensführung ändern.
Modediagnosen stehen genau dieser Strategie aber im Weg. „Solche Namen implizieren, dass Krankheiten einen körperlichen Ursprung haben und dass man als Patient wenig machen kann“, erklärt Gündel. Denn dies müsse ja medizinisch behandelt werden. Der Arzt ist gefordert, nicht der Patient.
Laut Gündel gebe es hier zwei Gefahren: Einerseits würden sich Patienten eher zurückziehen und nichts unternehmen. „Andererseits gibt es Behandler, die Medikamente oder Kuren anwenden und behaupten, diese würden helfen, obwohl es diesbezüglich keinerlei Evidenz gibt.“
Gündel rät Patienten, solche Therapien kritisch zu hinterfragen. Das ist ein Aspekt. Ärzte haben an der Misere aber auch eine gewisse Mitschuld, wie Untersuchungen der Hochschule Fresenius zeigen.
Mehr als 1.000 Teilnehmer wurden über ihre Erwartungen und Erfahrungen befragt, wenn sie Hilfe bei Ärzten oder bei Heilpraktikern suchten. Die Resultate überraschen nicht, zeigen aber grundsätzliche Probleme auf: Konsultationen beim Heilpraktiker dauerten im Schnitt 60 Minuten, während Ärzte sich lediglich 7,5 Minuten Zeit nahmen – oder nehmen konnten.
Nicht zuletzt zeigte die Untersuchung, dass Patienten subjektiv mit den Ergebnissen ihrer Behandlung bei Heilpraktikern zufriedener waren als bei Ärzten. Auch das lässt vermuten, dass in vielen Fällen psychosomatische Komponenten eine starke Rolle spielen.
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