COVID-19 zieht viele Organsysteme in Mitleidenschaft, nicht nur die Lunge. Was wir bis jetzt über die Langzeitschäden der Erkrankung im Gehirn und den Nervenzellen wissen.
Nach etlichen Monaten der Forschung wissen Ärzte, dass es sich bei COVID-19 um eine systemische Erkrankung handelt – und nicht „nur“ um eine Lungenerkrankung. Zuerst infiziert das Virus den Körper. Hier werden Lungen, aber auch Nieren und kleine Blutgefäße in Mitleidenschaft gezogen. Kommt es danach zum Zytokinsturm, können Botenstoffe die Blut-Hirn-Schranke schädigen, und SARS-CoV-2 gelangt bis ins Gehirn. Sowohl die Zytokine als auch das Virus schädigen Nervenzellen. Welche Folgen das im klinischen Alltag hat, zeigen etliche Untersuchungen.
Eine Fall-Kontroll-Studie mit 123 Patienten hat ergeben, dass COVID-19 signifikant mit höheren Schlaganfall-Risiken in Verbindung steht. Von Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall hatten 46,3 Prozent eine SARS-CoV-2-Infektion im Vergleich zu 18,3 Prozent der Kontrollen. Sie waren im Schnitt 65,5 Jahre alt. Nach Anpassung des Alters, des Geschlechts und weiterer Risikofaktoren zeigte sich, dass Infizierte im Vergleich zu Kontrollpersonen ein signifikant höheres Risiko hatten. Das Odds Ratio lag bei 3,9.
Nicht nur ältere Menschen sind betroffen, wie fünf Fallberichte aus New York zeigen. Die SARS-CoV-2-Patienten waren 33, 37, 39, 44 und 49 Jahre alt. Bei ihnen kam es zum Schlaganfall mit Verschluss einer großen Hirnschlagader.
Schlaganfälle sind nur eine mögliche Manifestation von COVID-19, wie chinesische Forscher auf Basis einer Kohortenstudie mit 86 Patienten berichten. 65 Prozent hatten mindestens ein neurologisches Symptom. Besonders häufig traten Beschwerden mit Beteiligung des Zentralnervensystems auf (23,3 Prozent), darunter ein Delirium, zerebrovaskuläre Erkrankungen und hypoxisch-ischämische Enzephalopathien. Ischämische Schlaganfälle fand man bei 7 Prozent der Patienten. Als mittleres Alter geben die Autoren 66,6 Jahre an.
Neurologische Beschwerden geben Anhaltspunkte für Prognosen. Das zeigt eine prospektive Kohortenstudie.
Von 4.491 COVID-19-Patienten, die während des Studienzeitraums stationär behandelt wurden, entwickelten 606 (13,5 Prozent) innerhalb von zwei Tagen nach Auftreten der COVID-19-Symptome neurologische Störungen. Zu den häufigsten Diagnosen zählten toxische beziehungsweise metabolische Enzephalopathien (6,8 Prozent), Krampfanfälle (1,6 Prozent), Schlaganfälle (1,9 Prozent) und hypoxisch-ischämische Enzephalopathien (1,4 Prozent).
Nach statistischer Korrektur bekannter Risikofaktoren wie dem Alter, dem Geschlecht, dem SOFA-Scores, Intubationen, Vorerkrankungen, Pharmakotherapien u.a. hatten COVID-19-Patienten mit neurologischen Störungen ein erhöhtes Sterberisiko im Krankenhaus (Hazard Ratio 1,38) und wurden mit geringerer Wahrscheinlichkeit nach Hause entlassen (Hazard Ratio 0,72).
Aufgrund der Studien bleibt als Hypothese: Vielleicht lässt sich die hohe Mortalität von mehr als 50 Prozent bei beatmeten CVID-19-Patienten mit neurologischen Komplikationen erklären? Das vermutet zumindest die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und hat deshalb eine spezielle S1-Leitlinie veröffentlicht.
Die Autoren empfehlen, Neurologen sollten COVID-19-Patienten mitbetreuen. Auf der Intensivstation können sich neurologische Auffälligkeiten hinter dominierenden pulmonalen Beschwerden verbergen. Ohne routinemäßige Screenings bleiben solche Begleiterkrankungen unerkannt.
Doch warum kommt es überhaupt zu neurologischen Beschwerden? Die Frage ist derzeit schwer zu beantworten. Es gibt jedoch erste Hinweise aus Tierversuchen.
Bei einer Infektion stellt der Körper Antikörper her. Sie haben ganz unterschiedliche Eigenschaften. Stark neutralisierende Antikörper aus menschlichem Serum konnten im Experiment verhindern, dass sich Hamster mit SARS-CoV-2 infizieren. Die Nager sind ähnlich empfindlich wie Menschen.
Allerdings erwiesen sich besonders reaktive Antikörper als wenig spezifisch. Sie erkennen zum Teil körpereigene Antigene, etwa im Gehirn. Gegen welche Proteine sie sich genau richten, ist unklar. Hier könnte ein Schlüssel für den Zusammenhang von COVID-19 und neurologischen Symptomen sowie Begleit- und Folgeerkrankungen liegen.
Neben akuten Komplikationen von COVID-19 häufen sich Hinweise auf chronische, langfristige Effekte. Viele Patienten sind noch Wochen oder Monate nach ihrer Genesung müde, erschöpft, kommen kaum auf die Beine und können nicht arbeiten. Sie fühlen sich wie benebelt, haben Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten oder klagen über Kopfschmerzen. Oft ist von „Long COVID“ als Form des chronischen Müdigkeitssyndroms (chronic fatigue syndrome, CFS), auch Myalgische Enzephalomyelitis (ME) genannt, die Rede.
Davon berichtet beispielsweise die 38-jährige Neurowissenschaftlerin Athena Akrami in Science. Vor ihrer Infektion war sie ständig im Labor, aber auch sportlich aktiv. Daran ist jetzt nicht mehr zu denken.
Ihre Schilderung ist kein Einzelfall. Für eine Studie wurden 120 ehemals stationäre COVID-19-Patienten im Mittel 110,9 Tage nach der Aufnahme begleitet. Die am häufigsten berichteten anhaltenden Symptome waren Müdigkeit (55 Prozent), Atemnot (42 Prozent), Gedächtnisverlust (34 Prozent), Konzentrations- und Schlafstörungen (28 bzw. 30,8 Prozent). Vergleiche zwischen Patienten auf der Station und auf der Intensivstation führten zu keinen statistisch signifikanten Unterschieden in Bezug auf diese Symptome.
Solche Ergebnisse überraschen bei einem Blick in die Literatur nicht wirklich. Ab 2012 kursierte MERS-CoV, auch bekannt als Middle East respiratory syndrome-related coronavirus. Prospektive Studien mit 72 Überlebenden haben gezeigt, dass nach einem Jahr 27 Prozent und nach 1,5 Jahren noch 17 Prozent an depressiven Symptomen litten. Symptome eines CFS hatten 48 Prozent beziehungsweise 33 Prozent.
Aufgrund solcher Veröffentlichungen spekulieren US-Medien, dass ein Jahr nach Beginn der Pandemie zwischen 400.000 und 3,75 Millionen Menschen in den Staaten am CFS leiden könnten. Nach der Corona-Welle rollt die CFS-Welle.
Dennoch ist klar, dass nicht jeder Patient mit SARS-CoV-2-Infektion ein CFS entwickelt. Auf der Suche nach Risikofaktoren sind Wissenschaftler fündig geworden. Sie haben 4.182 COVID-19-Patienten in Schweden, Großbritannien und den USA nachbeobachtet. 13 Prozent aller Teilnehmer hatten länger als 28 Tage nach der Infektion noch Beschwerden. Dies war vor allem mit diesen Risikofaktoren assoziiert:
Hier geht es lediglich um Assoziationen. Wie es zum CFS kommt, ist unklar. Das das Immunsystem eine Rolle spielt, gilt als plausible Hypothese. Evidenzbasierte Therapien sucht man vergebens. Rintatolimod, ein experimenteller Arzneistoff, zeigt in Studien gewisse Effekte. Ohne groß angelegte Untersuchungen, wie sie die Lost Voices Stiftung fordert, wird sich aber kaum evidenzbasiertes Wissen generieren lassen.
Bildquelle: Ralph (Ravi) Kayden, unsplash